In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?

Sonntag, 17. Juni 2012

Das Ausmaß der eigenen Verletztheit erkennen – Wenn Eltern mit ihren Kindern lernen ...

Tatsächlich ist es möglich, das Ausmaß der eigenen Verletzung und Verletztheit zu erkennen - an der eigenen Reaktion, dem eigenen Verhalten. Für den Betroffenen, den Gegenüber, aber auch für den, der sein eigenes Verhalten anschauen muss, ist das keine einfache Sache. Vor allem dann, wenn das Gegenüber das eigene Kind - oder überhaupt ein Kind - ist.

So geschehen mir mit meiner Tochter.

Es war die Zeit, als sie die Anfangsklassen des Gymnasiums besuchte - ein humanistisches Gymnasium -, Latein lernte und die Wochenenden immer bei ihrem Papa verbrachte.
Nicht nur in Latein, auch in Deutsch lernte natürlich der Papa als Lehrer ab und zu mit seiner Tochter (wobei ich mich glücklich schätzen konnte und kann, dass ich eine sehr zielstrebige Tochter habe, die gern lernte und lernt und auch von sich aus vorankommen will - etwas, was nicht allen Eltern so geht, wie ich aus manchem Gespräch mit leidgeprüften Eltern in Rahmen der schulischen Sprechstunde weiß ...).
Jedenfalls stellte ich fest, dass bei unserem Lernen am Wochenende der Papa immer wieder genervt war. Natürlich war es so, dass ich auch am Wochenende korrigieren musste und von der Woche schon erschöpft war. Das hätte mir als Begründung für mein Verhalten dienen können; wenn ich mir das als Grund oft genug gesagt hätte, hätte ich am Ende irgendwann selbst auch geglaubt, dass das der eigentliche Gund sei. Aber innerlich wusste ich genau, dass das nicht ausschlaggebend sein konnte. Es war auch so, dass ich in der Schule mich keinem Schüler gegenüber auch nur annähernd so blöd und ungeduldig verhielt wie gegenüber meiner Tochter. Da fielen dann so Bemerkungen wie "Sag mal, kapierst Du das denn nicht" oder "Das gibt´s doch nicht, dass ...".
Auffallend war, dass ich mich selbst unmöglich fand. Dass ich mich innerlich aufforderte, geduldiger zu sein, dass ich mir klarzumachen versuchte, dass meine Tochter das nun wirklich nicht unbedingt verstanden haben muss ...
Was mir damals noch nicht so klar war wie heute, war, dass, wenn ich anfing, so zu sein, so versteckt oder offen vorwurfsvoll, so lehrerhaft, meine Tochter dann nicht mehr verstehen konnte. Stress desintegriert einfach das Gehirn, schließt die Synapsen, schaltet ganze Gehirnareale ab.
Von dem Herzen, das blockiert ist, ganz abgesehen.
Ich weiß noch, es ist mittlerweile annähernd 12 Jahre her, dass mir meine Tochter leid tat, weil ich beobachtete, wie tapfer sie war, wie sie meine üble Laune und mein saublödes Verhalten wegsteckte ...
Wenn wir dann das Lernen beendeten, war ich total erschöpft und mein Kind muss innerlich todtraurig gewesen sein, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ.
Als dieses "gemeinsame" Lernen wiederholt so ablief, dass relativ schnell mein Ton sich steigerte, meine Ungeduld, meine Vorwürfe, weiß ich noch, dass ich selbst nicht mehr mit meiner Tochter lernen wollte, weil es mir selbst leid tat, wie blöd ich mich verhielt, weil meine Tochter mir leid tat. Ich sagte, dass auch zu ihr, dass es mir lieber wäre, wenn wir nicht mehr zusammen lernen, es sei ja auch wirklich nicht zwingend, weil sie auch so gut mitkam. Aber sie wollte nicht darauf verzichten.
Ich erinnere mich auch noch, dass ich mich bei ihr entschuldigte für mein Verhalten, ich glaube, mindestens zweimal. Mein Töchterchen reagierte darauf verhalten, nicht ablehnend mir gegenüber, aber ein wenig so, als ob das schon in Ordnung sei - das lag sicherlich auch an ihrer familiären Situation; ein Trennungskind will eben halt weder Vater noch Mutter verlieren, zudem verstanden wir uns ansonsten bestens ...
Jedesmal, wenn wir neu starteten, nahm ich mir auch vor und sagte zu mir: Johannes, jetzt bist Du geduldig und lieb und wirst nicht ungeduldig, nicht vorwurfsvoll, nicht ausfallend.
Nicht, dass ich wirklich laut geworden wäre oder richtig ausfallend, aber eben dringlicher, pressend, in der Stimme eindeutig vorwurfsvoll, ungeduldig, auch vorwurfsvoll mit Worten, auch so blöd indirekt wie: Sag mal, habt ihr das denn nicht besprochen ...
Saublöd also.
Damals war mir nicht wirklich klar, was ablief. Ich hatte nur Gott sei Dank die Fähigkeit, dass ich mich wie von außen beobachtete und dass ich mich selbst wenig positiv beurteilte ...
Vielleicht lag es genau an diesem Beurteilen, dass ich nicht damals schon darauf kam, was ablief. Vielleicht fehlten mir einfach auch meine Kenntnisse in Bezug auf das innere Kind und meine eigenen Verletzungen.

Heute sehe ich an meinem Verhalten im Nachhinein, wie sehr ich in meiner Kindheit selbst verletzt worden sein muss. Dass ich zum Teil unmögliche Lehrer hatte, das war mir bewusst. Zum Teil waren es Lehrer, die im Krieg gewesen waren und denen man das anspürte oder sogar ansah: Einer hatte ein zerschossenes Handgelenk und konnte seine Hand, die immer schwarz bandagiert war, nur gekrümmt halten, einer hatte ein Holzbein, was wir endgültig herausbekamen, indem ein Klassenkamerad seinen Zirkel mit der Spitze voran gegen sein Bein warf. Als er nicht schmerzhaft zusammenzuckte, wussten wir: ja, tatsächlich, ein Holzbein.
Ich erinnere mich auch noch an einen Griechisch-Lehrer, vor dessen Stunden einige fast regelmäßig weinten oder vor Angst zitterten: ein echt fieser Typ, übrigens sehr religiös und Bruder im Herrn ... mein Vater, der ihm auf eine andere Weise in nichts nachstand, kannte ihn auch von diesen Stunden her ... meiner Angst konnte das keinen Abbruch tun ...

Gewiss kamen meine Verletzungen auch durch meine Lehrer.
Aber sie müssen vor allem durch mein Zuhause gekommen sein.
Mittlerweile ist mir ja manches in Bezug auf mein Elternhaus und vor allem auch das Verhalten meines Vaters klargeworden.
Was mir aber vor allem klar geworden ist: wie tief die Verletzungen von mir gewesen sein müssen, dass ich mich selbst so gegenüber meinem Kind verhielt.
Und das, obwohl ich mich so nicht verhalten wollte.
Obwohl ich mir meines Verhaltens bewusst war, konnte ich den Mechanismus nicht abstellen, der da regelmäßig ablief. Gut, mit der Zeit wurde es besser, aber über relativ lange Zeit bekam ich mein Verhalten nicht in den Griff.
Wobei ich diese Formulierung "in den Griff bekommen" eh schrecklich finde.

Meine Kindheit habe ich nicht einmal krass in der Erinnerung. Das hat im Grunde kein Kind. Zuhause ist Zuhause. Mutter ist Mutter, und Vater ist Vater. Die liebt man als Kind. Ich z.B. habe meinen Vater geliebt. Für mich war das auch korrekt, was er machte. Für ein Kind ist der Vater wie ein göttliches Wesen. Es bedarf schon sehr sehr viel, dass diese Beinahe-Göttlichkeit fundamental erschüttert werden kann; in der Pubertät dann schon, vorher aber kaum.
Da steckt man alle Verletzungen weg, man ist ja tatsächlich schuld, man versteht nicht, man ist ja tatsächlich blöd, tatsächlich kapieren es ja alle anderen, nur man selbst nicht; da haben Papa und Mama schon Recht ...

Nur an meinen Verhalten gegenüber meinem Kind kann ich die Dimensionen meines eigenen Verletztseins im Nachhinein erkennen!
Ich muss gewaltig verletzt gewesen sein, dass sich dieses verletzte innere Kind, sobald es angestupft wurde durch diese Situation "Vater und Kind lernen zu Hause, gemeinsam am Tisch sitzend" berührt wurde; dann wurde ich zu meinem Vater, machte mein Kind zu dem kleinen Johannes, der nicht weinte, nicht weinen durfte, alles über sich ergehen ließ ...
Das schmerzt, in erster Linie schmerzt es mich heute für meine Tochter; aber ich spüre auch den Schmerz des 11-jährigen Johannes.

Gott sei Dank spüre ich ihn und ich sehe mich heute in unserem Wohnzimmer in der Ortenbergerstraße in Frankfurt sitzen ... mit meinem Vater, der so viel selbst nicht blickte, und sehe den Johannes, der dabei hockte und hoffte, dass ihm sein blockierter Vater über die eigenen durch diesen bedingten Blockaden hinweghelfen würde ...
... was für eine traumatische Situation ...