In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?
Montag, 25. Mai 2009
Sich mit Hilfe von Kindern des eigenen inneren Kindes bewusst werden: Von einem Fußtritt, einem Milzriss und einem inneren Kind, das um Liebe wimmert.
Martin war ein stiller Junge, zurückhaltend, zurückgezogen, ja auch ein wenig verdruckt. Ich hatte seine Mutter kennengelernt, eine Matrone, die alles genau wusste und bei der er gewiss nur wenig Luft zum freien Atmen bekam.
Ich konnte Martin nicht besonders leiden; er war mir einfach nicht sympathisch.
- Es ist gut, wenn ein Lehrer sich das zugesteht, denn nur so sind Heilungen möglich.
Ich war Martins Klassenlehrer in der 5. und 6. Klasse, unterrichtete ihn in Sport und Deutsch und wir hatten nie einen mehr als förmlichen Draht zueinander.
Wie erstaunt war ich, als in der 7. Klasse - er und ich hatten keinen Fächerunterricht mehr zusammen - Martin in meiner Theater-AG auftauchte.
Ich war nahezu perplex: Martin und Theaterspielen?! Dieser introvertierte Junge, der nie den Mund freiwillig aufmachte?! Gleichzeitig war ich auch irgendwie erfreut, dass er diesen Schritt gewagt hatte.
Wir bereiteten uns in den ersten Doppelstunden auf das Spielen eines Stückes vor, indem wir emotionale Interaktionen übten, Sprechübungen machten und Ähnliches mehr.
Martin stand gerade auf der Bühne und sollte aggressiv reagieren; aber er konnte es nicht. Ich sprang mit einem Satz nach oben und machte es ihm vor; ich weiß noch heute, wie ich sagte: Stell Dir vor, da steht ein Lehrer vor Dir, den Du nicht leiden kannst und Du würdest ihm am liebsten gegen das Schienbein treten.
Was mir bis dato nie passiert war und auch nicht mehr passiert ist - eigentlich hatte und habe ich eine ganz gute Körperkontrolle: Mein Fuß stoppte einfach nicht da ab, wo er sollte, sondern traf Martins Schienbein.
Martin war geknickt; ihm tat erkennbar das Bein weh. Ich entschuldigte mich zigmal und brachte ihm am nächsten Tag ein Buchgeschenk mit, um ihm zu zeigen, dass es mir wirklich Leid tue (der Tritt war nicht zu fest gewesen, aber sicherlich spürbar).
Martin kam nicht mehr in die Theater-AG.
Zweieinhalb Jahre später führte uns das Schicksal wieder über den Sportunterricht zusammen.
Martin war immer noch derselbe, weswegen ich ihn nur beschränkt leiden konnte:
Wenn er gefoult wurde, blieb er immer lange liegen und sandte deutlich aus: Wer kümmert sich um mich? Kümmert sich keiner um mich? Ich bin so verletzt ... ich bin schwer verletzt ... Hilfe, Hilfe ... - Das tat er mit dem Erfolg, dass keiner sich um ihn kümmerte; jeder spürte diesen Gestus, vor allem ich. Ich mochte diese weinerliche Botschaft absolut nicht.
Es war Anfang Dezember, als wir die Grätsche über den Längskasten sprangen. Ich war erstaunt, wie viele in der Klasse den Mut hatten, mit Karacho anzulaufen, vom Reuterbrett abzuspringen, zu fliegen, weit nach vorne zu greifen, zu grätschen und zu landen. Keine einfache Übung. Fast drei Meter, die es fliegend zu überwinden galt. Manche setzten die Hände zu früh auf dem Kasten auf, dann bestand extreme Gefahr für die Handgelenke, weil der Körper über sie wegschob; manche sprangen auch zu flach ab, dann mussten sie zwangsläufig auf dem Kasten aufsetzen. Oder sie sprangen im Sprungbrett zu weit vorn ab; dann bestand die Gefahr, dass sie an dessen Ende zum Kasten hin abrutschten und gegen diesen donnerten.
Alles ging gut.
Viele in der Klasse sprangen die schwere Übung. Ich staunte.
Vor allem staunte ich: Martin war dabei.
Das hatte ich ihm nie im Leben zugetraut: diesen Mut, anzulaufen und abzuspringen, ohne Besinnung, ohne zu zögern.
Bei manchen merkt man eine Hemmung, wenn sie anlaufen und dann springen sollen; da ist eine minimale Verzögerung kurz vor dem Absprung, die Angst!
Martin hatte keine Angst.
Er sprang, als hätte er das schon immer gemacht.
Ich wunderte mich einfach bloß; das hatte ich ihm im Leben nie zugetraut. Wo war die eingebaute psychische Bremse, die er sonst in seinem Verhalten und auch im Sport hatte?
Ich bin immer froh, wenn solch eine Stunde gut vorbeigeht und so war es auch damals.
"Schluss für heute." - Ich beendete das Springen.
"Noch einen Durchgang, noch einmal", die Klasse bettelte förmlich. Welches Lehrerherz wird da nicht weich und freut sich auch über so viel Engagement.
"Okay, noch einen Durchgang."
Ich baute mich wieder hinter dem Längskasten auf, denn immer mal wieder musste ich einen auf die Beine stellen, der mit zu viel Dampf dahergeflogen kam.
Dann kam Martin dran.
Mutig und zuversichtlich lief er an.
Es krachte schrecklich; das Kastenende hob sich.
Martin war abgerutscht und gegen den Kasten gedonnert. Er lag auf dem Boden.
Ich war fassungslos und erinnere mich, dass ein Schüler zu mir sagen musste: "Heben Sie ihn doch hoch!"
Das riss mich aus meiner Lähmung. Ich versuchte, das Häufchen Elend auf die Beine zu stellen. Martin wimmerte.
Nach einer ganzen Weile war er wieder so weit klar, dass ich glaubte, ihn alleine nach Hause gehen lassen zu können.
Am nächsten Morgen kurz vor Unterrichtsbeginn lief ich am Klassenraum von Martins Klasse vorbei und rief hinein: "Na ihr Sprungtiger, wie geht es Martin?"
"Der liegt im Krankenhaus, Verdacht auf Milzriss!"
Ich war wie vom Donner gerührt.
"Häääääää??"
"Keine Ahnung, die Mutter hat´s gesagt."
An diesem Tag hatte ich wieder bis 17.15 Uhr Unterricht und die ganze Zeit kämpfte ich mit mir: Soll ich im Krankenhaus vorbeigehen oder nicht? Irgendwie hatte ich Null Bock auf diesen Besuch, es waren meine alten Vorbehalte gegen Martin, die da in mir schwelten, ich wusste es genau.
Schließlich siegte das Pflichtgefühl. Trotz noch ausstehender Unterrichtsvorbereitungen: Um 18 Uhr stand ich auf seiner Station vor der diensthabenden Schwester und fragte sie: "Kann ich ausnahmsweise noch zu Martin Schneider ❴Name von der Redaktion :-) geändert ...❵, ich weiß, es ist außerhalb der Besuchszeit, aber die Frau an der Pforte hat mich hochgelassen; er ist ein Schüler von mir und ich hatte bis jetzt Unterricht?"
"Tut mir leid, da kommen Sie zu spät!"
Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen; das konnte nicht sein, das doch nicht, klar konnte ein Milzriss lebensbedrohlich sein ...
Ich hörte die Stimme der Schwester:
"Der ist heute Nachmittag entlassen worden."
Die Gedanken in meinem Kopf glichen einem zusammengerechten Laubhaufen bei Windstärke 10.
Ich hörte mich sagen: "Ja, kann es sein, dass er sich selbst eingeliefert hat? - War da mehr Krankseinwollen als wirkliches Kranksein?"
"Das kann man so sagen!"
Ich bedankte mich kurz bei der Schwester, ich musste sofort an die frische Luft.
Hatte ich es nicht geahnt?!
Martin hatte wieder seine Mitleids- und Hilfe-ich-bin-so-verletzt-Chose abgezogen.
Wochen später, ich war joggend unterwegs und ich kenne die Stelle heute noch, fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
Johannes, dieser Martin, das bist Du. So warst Du auch in diesem Alter.
- Die Geschichte mit Martin hatte mich nie losgelassen. -
Da liegst Du in Wirklichkeit auf dem Boden und möchtest Zuwendung. Dir ist es als Kind genauso gegangen, ob mit 11 oder mit 15. Du hast Dich nach Zuwendung, nach Liebe gesehnt und hast sie zu Hause nie bekommen. Und was Martin gemacht hat und macht, hast Du damals genauso gemacht: Du hast allen gezeigt, wie verletzt Du bist, wenn Du verletzt warst, Du hast sie zu Entschuldigungen und Streicheleinheiten zwingen wollen.
Du warst ein emotional genauso verarmtes Kind wie Martin es ist.
Noch und gerade als Erwachsener neigt man dazu, in bestimmten Situationen in dieses Alter zu gehen und sich so zu verhalten wie der fünfzehnjährige Martin, wie der zwölfjährige Johannes. - Das ist normal. Es ist nichts Krankhaftes. Es ist einfach so: Ein Teil der Seele ist krank, er ist verletzt und er machte es damals wie ein waidwundes Tier: Er zog sich zurück.
Und in bestimmten Situationen aktualisiert er sich im Erwachsenen. Auslöser können ein bestimmter Tonfall sein, eine Person mit bestimmten Merkmalen, ein Geruch, ein bestimmtes Maß an Unsympathie oder sogar Sympathie mit bestimmten Unklarheiten, ein Kind, das einen an seine eigene Kindheit erinnert mit einem bestimmten Verhalten, das man nur zu gut kennt ... dann kommen Aversionen auf, manchmal mehr.
Der Ausweg ist, sich rational klar zu machen, dass man mit seinem Gefühl der Aversion richtig liegt; und manchmal versichert man sich ja dann auch der Meinung anderer, die das genauso sehen: Ja, ein weinerlicher Typ.
Ein Ausweg ist und bleibt ein Weg ins Aus.
Eine Lösung ist, dass man seinem verletzten inneren Kind, wenn es sich wieder meldet, sagt:
>Hallo, heute bist Du nicht mehr allein, heute kümmere ich mich um Dich.<
Und man tröstet dieses verletzte Kind und sagt ihm: >Es ist alles gut, ich bin für Dich da!<
Für jemanden, der sich nicht mit dieser Materie beschäftigt hat, mag das seltsam vorkommen, aber ich rate allen, die darüber lächeln, mal sich zu fragen, warum so mancher Erwachsene - und Frauen getrauen sich das eher als Männer - einen Teddy oder eine Puppe oder ein weiches großes Kissen in den Arm nimmt oder sich reinkuschelt, wenn er verletzt ist. Im Grunde nimmt er sich selbst in den Arm, sein verletztes Kind von damals.
Und Gott sei Dank tut er das!!
Wenn er es anspricht, kann er es heilen.
Wie sagt J. Bradshaw: Man kann nur heilen, was man fühlt. Wie wahr. Dazu muss man diese Gefühle zulassen, ernst nehmen, wahrnehmen können.
Im Erziehungsprozess ist es natürlich für die heranwachsenden Kinder ungünstig, wenn sie einen Lehrer, eine Lehrerin oder Vater bzw. Mutter verletzen oder auch nur eine Verletzung auslösen; dann gibt es für Erwachsene oft nur zwei Möglichkeiten zu reagieren:
Der verletzte Erwachsene geht sofort in das Eltern-Ich von damals, übernimmt also genau das Verhalten dessen, der ihn damals verletzte - das geht dann meist nicht ohne Demütigung des Kindes, dem er gegenübersteht, ab, oder:
Er wird auch zum verletzten Kind von damals und keift mit dem ihm gegenüberstehenden Kind herum.
Das kommt leider öfters vor, als man denkt! Auch in der Schule lässt es sich immer wieder beobachten.
Für einen Erwachsenen ist dieses Verhalten im Grunde fast zwanghaft - bis ihm die Ursachen bewusst werden.
Nur wehrt sich dieses verletzte innere Kind mit Händen und Füßen, entdeckt zu werden.
Deshalb wird auch in den Schulen und unter Eltern viel zu wenig über diese Thematik gesprochen.
Notwendig wäre in obiger Situation, dass der Erwachsene sich sagen kann:
Moment, ich bin der Erwachsene, ich trage hier Verantwortung, ich trage zur Lösung entscheidend bei. Er kann also als der liebevolle Erwachsene agieren. - Das kann durchaus bedeuten, dass er eine klare, unmissverständliche Entscheidung trifft; aber die ist durchaus manchmal angebracht im erzieherischen Prozess, vor allem, wenn man auf Kinder trifft, wie sie M. Winterhoff in seinem hervorragenden Buch Tyrannen müssen nicht sein anspricht.
PS: Was hinter einem Fußtritt aus Versehen doch alles stecken kann ... heute weiß ich, dass er kein Zufall war.
Und:
In der Folgezeit, nachdem mir bewusst geworden war, wie nahe mir Martin eigentlich stand - er war ja im Grunde ein Teil von mir -, wurde er richtiggehend erwachsen für mich, das heißt: Ich konnte ihn eine selbständige Persönlichkeit werden lassen. Das tat uns beiden (uns beiden!) richtig gut.
Labels:
Erziehung,
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