Kapitel 2
Sie sind ein Erwachsener, ein Elternteil
So, wie wir als Kinder behandelt werden,
behandeln wir uns während unseres ganzen restlichen Lebens.
behandeln wir uns während unseres ganzen restlichen Lebens.
Alice Miller Am Anfang war Erziehung
Der erwachsene Teil in uns kommt nicht plötzlich zur Welt, sobald wir achtzehn werden. Von unserer Geburt an entwickeln wir sowohl den Persönlichkeitsanteil des Kindes als auch den des Erwachsenen in uns.
Was ist ein Erwachsener?
Der Erwachsene ist der logische, der denkende Teil in uns. Die Gefühle des Erwachsenen sind das Ergebnis seines Denkens. Beim Kind dagegen entspringen die Gedanken seinen Gefühlen. Der Erwachsene ist eher am Tun als am Sein interessiert, eher am Handeln als am Erleben. [...]
Der Erwachsene ist die Entscheidungsinstanz im Hinblick auf unsere Absichten und Handlungen. Es ist immer der Erwachsene, der darüber entscheidet, ob wir uns schützen wollen oder ob wir lernen wollen, und der die entsprechenden Aktionen auswählt, die der Realisierung unserer Absicht dienen. Der Erwachsene muss die Aufgabe des liebevollen Bemutterns übernehmen - die alten Wunden heilen und die falschen Überzeugungen durch die Wahrheit ersetzen -, und er muss sich weigern, die negativen und selbstzerstörerischen Verhaltensmuster des verlassenen Kindes zu tolerieren. Das innere Kind wird erst dann neugierig werden und sich für das Lernen öffnen, wenn der Erwachsene beschlossen hat zu lernen und das Kind geduldig und unbeirrbar zu lieben.
Unser innerer Erwachsener kann ein liebevoller oder ein liebloser Erwachsener sein - mit anderen Worten, ein Erwachsener, der beschlossen hat zu lernen, oder ein Erwachsener, der sich entschieden hat, sich zu schützen. [...]
Der lieblose Erwachsene
Lieblos ist der Erwachsene, der die Wahl getroffen hat, sich gegen die Wahrnehmung und das Durchleben von Schmerz, Angst, Traurigkeit, Unbehagen und des intensiven Gefühls des Alleinseins und der Einsamkeit seines inneren Kindes zu schützen, und der sich weigert, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Der lieblose Erwachsene hat sich zudem entschieden, keine Verantwortung für die Freude des Kindes zu übernehmen. Er misst Aufgaben, Regeln, Verpflichtungen und Scham- und Schuldgefühlen einen größeren Wert bei als dem Gefühl, in Kontakt mit sich selbst zu sein. Der lieblose Erwachsene spaltet so das innere Kind ab und lässt es durch seine Entscheidung, ein autoritärer oder gleichgültiger Elternteil zu sein, im Stich. Wenn der lieblose Erwachsene autoritär ist, dann ist er kritisch, verurteilend, herabsetzend und/oder kontrollierend. Der lieblose Erwachsene ist die innere Stimme, die das Kind belügt, ihm sagt, dass es schlecht, falsch, unzulänglich, dumm, selbstsüchtig oder unwichtig sei, und der die Gefühle des Kindes für unwichtig erklärt. Er versucht, das Kind zu kontrollieren, indem er ihm sagt, was es tun sollte oder nicht tun sollte, und ihm all die schlimmen Dinge vorhält, die passieren können, wenn es etwas »nicht richtig« macht. Der lieblose Erwachsene sagt dem Kind, dass es nur dann liebevoll sei, wenn es sich selbst aufopfere, und dass es selbstsüchtig sei, sich selbst glücklich zu machen. [...] Der lieblose Erwachsene ignoriert und verleugnet die Stimme des inneren Kindes und schafft so genau dieselben Schwierigkeiten, die Eltern haben, wenn sie nicht auf ihre Kinder hören. Die Hauptabsicht des lieblosen autoritären Erwachsenen besteht darin, das innere Kind zu kontrollieren. [...]
Wenn der lieblose Erwachsene gleichgültig ist, dann ist er vielleicht völlig abwesend und lässt das Kind mit allem allein fertig werden. Oder er erlaubt dem Kind, selbstzerstörerisch zu sein, sich selbst physisch und/oder emotional durch Sucht und Abhängigkeit zu missbrauchen und zu verletzen. Der gleichgültige innere Erwachsene wird es dem inneren Kind möglicherweise erlauben, andere durch physische und/oder emotionale Gewalt - Schlagen, Verprügeln, Stehlen, Lügen, Beschuldigen oder sogar Vergewaltigen und Töten - zu zerstören. Der gleichgültige lieblose Erwachsene geht auf die Wünsche und Bedürfnisse des inneren Kindes nicht ein. Der lieblose Erwachsene hat entschieden, die Verantwortung für die Bedürfnisse des inneren Kindes abzulehnen, so dass das Kind gezwungen ist, seine Bedürfnisse von anderen befriedigen zu lassen.
Sowohl der autoritäre als auch der gleichgültige innere Erwachsene geben dem inneren Kind das Gefühl, ungeliebt und im Stich gelassen zu sein. Das Kind folgert daraus, dass es schlecht, falsch, nicht liebenswert, fehlerhaft, unwichtig, unbedeutend und unzulänglich sei, und diese falschen Überzeugungen erzeugen Gefühle von Angst, Scham und Schuld.
Der lieblose Erwachsene ist im Allgemeinen ein Abbild der Lieblosigkeit unserer Eltern, Großeltern, Geschwister, Lehrer, geistlichen Führer oder anderer Rollenvorbilder und Autoritätspersonen. Wir alle neigen dazu, auf dieselbe Art auf unser inneres Kind zu reagieren wie unsere Eltern oder Bezugspersonen, und somit erzeugen wir immerfort aufs Neue unseren Schmerz und das Gefühl des Getrenntseins. Wir können unser inneres Kind auf dieselbe Art kritisieren, anlügen, beschuldigen oder abwerten, wie wir selbst als Kind kritisiert, angelogen, beschuldigt und abgewertet worden sind, und wir benutzen dazu oft dieselben Worte, Sätze und Handlungen. Ihr liebloser Erwachsener verhält sich autoritär oder gleichgültig, je nachdem wie Ihre Eltern oder andere nahe Bezugspersonen Sie und sich selbst behandelt haben.
Ihr innerer Dialog, der fortwährend im Unterbewusstsein abläuft, ähnelt wahrscheinlich den Worten, die Sie in Ihrer Kindheit von Ihren Vorbildern hörten. Unsere Eltern haben uns wahrscheinlich aus der Rolle ihres eigenen verlassenen Kindes und des eigenen lieblosen Erwachsenen heraus betreut, und dieses Verhalten prägte das Rollenvorbild für unseren eigenen lieblosen Erwachsenen. [...]
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