In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?

Dienstag, 25. Mai 2010

Innere Kinder und ihr Beitrag zu einer reifen Persönlichkeit: Über Alan Watts und seine Botschaft, dem Lauf des Wassers zu folgen


Endlich komme ich dazu, jenes Zeugnis zu veröffentlichen, das für mich auf so beeindruckende Weise zeigt, wie wunderbar der innere Erwachsene und die inneren Kinder Hand in Hand gehen können. Wenn sie das tun, dann finden wir eine reife Persönlichkeit, nicht nur eine würdevolle, steife, alternde, sondern einen würdevoll alternden und doch im Herzen jungen Menschen. Es ist der innere Tanz des Bewusstseins, das Tao, das letztendlich darüber entscheidet, wer führt, das Bewusstsein der Kinder oder das des Erwachsenen. Natürlich ist diese Unterscheidung in gewisser Weise künstlich, sie ist aber doch notwendig, damit wir erkennen, wie wichtig innere Kinder sind, wenn ein Erwachsener im Herzen jung bleiben kann, ja vielleicht erst wird. Es scheint fast so, dass erst im Alter Alan Watts, auf den ich bereits an anderer Stelle eingegangen bin, seine inneren Kinder so aufleben lassen konnte, dass sein Leben zunehmend wie ein vollmundiger reifender Wein wirkt.


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Über Alan Watts lesen wir in Wikipedia:

lan Watts (Alan Wilson Watts; * 6. Januar 1915 in Chiselhurst, Kent; † 16. November 1973 am Mount Tamalpais) war ein englischer Religionsphilosoph, der vorwiegend in den Vereinigten Staaten wirkte, wo er als Priester der Episcopal Church in the USA, Dozent und freier Schriftsteller tätig war.

Er befasste sich vor allem mit der Philosophie des Zen, des Buddhismus und des Daoismus.

Der gebürtige Engländer wuchs in einer Mittelschichtfamilie auf. Sein Vater war Reifenhändler, seine Mutter Hausfrau. Sein Großvater mütterlicherseits war christlicher Missionar gewesen. Watts wanderte 1939 in die USA aus, um an der University of Vermont und später an der Seabury Western Theological Seminary Theologie zu studieren. Er diente 1945 bis 1950 als Priester der US-Episkopalkirche, bis eine außereheliche Affäre seine Ehe beendete.

Er schrieb über 25 Bücher und zahllose Artikel über Themen wie persönliche Identität, die wahre Natur der Wirklichkeit, und das menschliche Bewusstsein. Eine instruktive und kritische Lebensbeschreibung, die Alan Watts in seine Zeit einbettet und vor dieser seine Lehre würdigt, verfasste der Philosoph Volker Zotz als Nachwort des Buches von Alan Watts: Zen. Stille des Geistes. Berlin 2001.

In seinem späteren Leben unterrichtete er viel. Gegen Ende seines Lebens hatte er zudem mit Alkoholproblemen zu kämpfen. Watts starb 1973 im Alter von 58 Jahren nach einer anstrengenden internationalen Vorlesungsreise in seiner Berghütte auf dem Mount Tamalpais.

Seine Philosophie:

Alan Watts war ein populärer philosophischer Autor der Postmoderne. Seine Schriften reflektieren die kulturellen und psychologischen Begrenzungen, die er in Großbritannien erfahren hatte. Trotz der Bildungschancen, die ihm durch die Schulen in seiner Kindheit eröffnet worden waren, empfand er den allgemeinen kulturellen Einfluss, insbesondere im religiösen Bereich, als restriktiv und repressiv. Seiner Meinung nach hatte sich die westlich-christliche Kultur im Laufe der Jahrhunderte auf eine Art und Weise entwickelt, die der menschlichen Natur als solcher skeptisch gegenübersteht, die das Wesen des Menschen unterdrückt, und ihn von einem ganzheitlichen, naturbezogenen Weltbild entfremdet, anstatt ihn zu lehren sein wahres Wesen zu erkennen und im Hier und Jetzt zu leben.

Watts, der sich als Denker und Öffentlichkeitsarbeiter verstand, hatte ein lebenslanges Interesse an den östlichen Philosophien insbesondere des Zen-Buddhismus und des Daoismus und an Wissensbereichen wie der Parapsychologie, dem Mystizismus, der Thaumaturgie. Er war der Ansicht, der Mensch sei Ausdruck des Göttlichen, und betrachtete das Leben als wunderbare Spielwiese, das, wie er es nannte, auf einem metaphysischen Versteckspiel basiert. Bekannt als Vermittler östlicher Philosophien in der westlichen Öffentlichkeit, wurde ihm manchmal vorgeworfen, er würde die östlichen Lehren, die auch direkt von östlichen Traditionen erlernbar seien, auf eine zu sehr vereinfachte und banale Weise kommunizieren.

Alan Watts: "Die Unfähigkeit, die mystische Erfahrung als solche anzuerkennen, ist mehr als eine intellektuelle Beschränkung. Mangel an Bewusstsein der grundlegenden Einheit von Organismus und Umwelt ist eine ernsthafte und gefährliche Halluzination. Denn in einer Zivilisation, die mit immenser technologischer Macht ausgestattet ist, führt die Entfremdung zwischen Mensch und Natur zur Anwendung von Technologie in einer feindseligen Geisteshaltung - zur "Eroberung" der Natur anstelle einer intelligenten Kooperation mit ihr."


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In Alan Watts Buch Der Lauf des Wassers. Die Lebensweisheit des Taoismus (orig: Tao: The Watercourse Way, 1975) hat Al Chung-liang Huang das Geleitwort geschrieben, jener Mann, der, geboren 1930 in Shanghai, selbst Tai Chi Meister, Philosoph, Kalligraph und Flötenspieler aus einer alten aristokratischen chinesischen Gelehrtenfamilie ist, Architektur, Kulturanthropologie und Choreographie studiert und bis 1971 seiner Lehrtätigkeit an der Universität von Ilinois nachkam und Mitglied der World Academy of Arts and Science ist.

Trotz all dieser Meriten scheint er genauso jung geblieben zu sein, wie es Alan Watts war, von dessen Lebensende er uns berichtet.

Vor allem aber ist interessant, dass er quasi im Nachwort von Alan Watts Buch Der Lauf des Wassers, das mir ebenfalls wie ein reifer vollmundiger Wein dünkt, uns schildert, dass Alan Watts in seiner menschlich-charakterlichen Ausgangssituation gar nicht jener Mensch war, der die Erde verließ, sondern dass er


eine lange Zeit der junge glänzende Gelehrte war, steif, korrekt und im Grunde sehr schüchtern. Während seines Lebens machte er viele Wandlungen durch und entfernte sich so weit von dem etwas spießigen, etwas snobistischen Habitus seiner britischen Erziehung, dass er, als ich ihn kennenlernte, hauptsächlich mit seiner Rolle als Guru der Blumenkinder identifiziert wurde. Seine eigenen Kreise, vor allem die Akademiker, kritisierten ihn als jemand, der sich scheinbar unvermittelt und gänzlich auf die andere Seite geschlagen hatte. Sie beneideten ihn auch, denn offenbar amüsierte er sich königlich.

Weil er theatralische Begabung hatte und spielen konnte, war es Alan möglich, viele seiner Viktorianischen Hemmungen zu überwinden und für sich und andere ein bestimmtes Gleichgewicht zu finden, das ihn irgendwie trug. In späteren Jahren wurde er abhängiger von seinem äußeren Bedürfnis nach Darstellung und dem Beifall seines Publikums. Obwohl er ständig überfordert war, hatte er zu viel Erfolg, um aufzuhören — und einen zu glänzenden Geist, als dass er sich seiner eigenen Natur hätte unterordnen können. Er wurde ein Musterbeispiel des westlichen Menschen als Opfer der yang-beherrschten Welt. Er enthüllte den Kern der Tragödie, von der die meisten Menschen in dieser gestörten Zeit betroffen sind, wenn er bekannte: »Ich mag mich aber nicht leiden, wenn ich nüchtern bin«, und sich noch einen Wodka eingoss, obwohl er in dem Augenblick wusste, dass er diese Stütze nicht mehr brauchte und nicht mehr brauchen durfte.

Als ich nach Amerika kam, merkte ich mit Erstaunen, wie schwierig es für die Menschen war, einander zu berühren, und wie Männer sich scheuten, simple Zuneigung zu äußern. Alan war keine Ausnahme. Wir mochten uns gleich, aber die wenigen Male, die er in meiner Erinnerung zärtlich war und sich umarmen ließ, waren gewöhnlich, nachdem wir getanzt hatten. Und damit wir so leicht und fröhlich tanzen konnten, brauchte er oft ein paar Drinks zur Entspannung. Ich spürte immer Alans Spannungen und seine fortwährende Anstrengung, die schwere Last seines Intellekts hinter sich zu lassen. Alans Reise in seinen eigenen Osten war nicht leicht (...)

Alan Watts, Der Lauf des Wassers, Bern 1983, S. 180ff


Umso erfreulicher, dass Alan Watts der Ausgleich zwischen östlichem und westlichem Denken und Leben zunehmend gelang. Der folgende Buchauszug aus Der Lauf des Wassers, Bern 1983, lässt, ohne dass man des Weiteren darauf eingehen müsste, die Bedeutung der inneren Kinder, transparent werden. Immer da, wo der Erwachsene seiner Intuition Raum gibt, tanzt und sich auch erlaubt, ausgelassen und gelassen zu sein, lebt er im Einklang mit seinen geheilten und heilenden inneren Kindern:

Al Chung-liang Huang

Zum Geleit


Meinen letzten Vormittag mit Alan Watts verbrachte ich in seiner Bibliothek in den Bergen mit der Aussicht über die Muir Woods. Wir tranken Tee, spielten auf einer Bambusflöte und zupften Koto-Saiten unter Eukalyptusbäumen. Wir hatten eben zusammen am Esalen-Institut in Big Sur und auf dem Fährschiff der Gesellschaft für Vergleichende Philosophie in Sausalito ein Seminar gehalten. Ich half ihm mit Recherchen für sein Buch, und er hatte gerade die Lektüre meines Buches Embrace Tiger, Return to Mountain (Umarme den Tiger, Kehre zum Berg zurück) beendet. Wir saßen auf dem Fußboden in der Bibliothek, verglichen Notizen, nickten und lächelten. Plötzlich sprang Alan auf, tanzte voll Freude eine T'ai-chi-Improvisation und rief: »Aha, T'ai-chi ist das Tao, wiu-wei, tzu-jan, wie Wasser, wie Wind, segeln, gleiten, tanzen mit den Händen, mit dem Kopf, Rückgrat, Hüften, Knien... mit dem Pinsel, mit der Stimme ... Ha, ha ha ha... la la lala aha ha...!« Geschmeidig glitt er in seinen Schreibtischsessel, spannte ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und tanzte mit den Fingern und sang dazu. Er schrieb ein Vorwort für mein Buch, eine schöne Einführung in das Wesen von t'ai-chi. Es war vielleicht das Letzte, was er schrieb, bevor eine anstrengende Vortragsreise nach Europa ihn von seinem Schreibtisch und seiner neuen Art, voll Spontaneität und Freude zu schreiben, wegholte.

Alan wollte, dass sein Buch über Taoismus sich von alleine schriebe. Als Gelehrter war ihm bewusst, dass er wiederum eines seiner »Themen mit Variationen« über die Begegnung von Ost und West schreiben würde. Aber als Mensch des Tao wusste er, dass er aufhören musste, mit dem Verstand Kontrolle auszuüben. Denn wie die Sache selbst es klar formuliert: »Das Tao, das taoisiert werden kann, ist nicht das Tao.«

Nachdem er so viele Jahre das Nichtbeschreibbare so wunderbar geschildert hatte, trat Alan Watts schließlich beiseite und ließ das Schreiben geschehen. Er wandte sich an mich, wenn etwas zu überlegen war. Er wollte sich mit Körper und Geist vollkommen auf die Bewegungen des Tao, im t´ai-chi einstimmen. Für Alan war seine neue Energie ein Genuss. Er schrieb die ersten fünf Kapitel mit großer Entdeckerfreude, Klarheit und schöpferischer Erkenntnis. Alle, die wir am Fortschritt der Arbeit beteiligt waren, wussten mit Sicherheit, dass dieses Buch sein bestes, sicherlich sein lebendigstes und nützlichstes würde. Wir konnten es nicht erwarten, bis er damit fertig war.

Von Anfang an fühlte ich mich geehrt und glücklich, dass ich ihm helfen durfte. Insbesondere wollte Alan wissen, wie ich die chinesischen Texte las. Beide fanden wir es erregend, die schwierigen Stellen zu entziffern, deren Sinn sich so wenig festlegen ließ und für viele Möglichkeiten der Deutung offen war. Wir sahen alle Übersetzungen durch, die es gab, diskutierten darüber, verarbeiteten und verwarfen sie, begannen von vorne und versuchten es mit einer neuen Stegreif Übersetzung, die uns besser gefiel.

Alan half mir, mich mit meinem mangelhaften Englisch auszusöhnen. Oft sagte er, dass mein chinesisch-englisches Kauderwelsch die chinesische Philosophie viel deutlicher wiedergebe und dass ich mich nicht so bemühen solle, es zu verbessern. Als Lehrerteam ergänzten wir uns gegenseitig. Wir waren ein ideales Gespann, wenn es darum ging, Menschen zur Erfahrung dessen zu bringen, was sie zu wissen glauben — indem wir sie aus ihrem Kopf in ihren Körper und dann zurück in die Einheit von Körper und Geist führten. Wir waren beide der Meinung, dass die frei fließenden Pinselstriche der kursiven »Gras-Schrift« den Lauf des Wassers im Tao am lebendigsten zum Ausdruck bringen würden.

Als er das Kapitel Te — Tugend (Wirklichkeit) beendet hatte, sagte Alan zu mir, und in seinen Augen funkelte es: »Ich und meine Leser haben jetzt genug von Gelehrsamkeit und Intellekt. Der Rest des Buches soll nur mehr ein Spaß und eine Überraschung sein!« Alan hatte gehofft, dass er seinen Lesern das Tao so nahe bringen könnte, wie er es im täglichen Leben praktizierte und erfuhr. In Alans Leben hatte sich vieles aufgetan. Er war wieder wie ein Kind, willig und fähig, neue Wege einzuschlagen und mit der unvermeidlichen Umwandlung seiner Energien Schritt zu halten. Während unseres letzten gemeinsamen Seminars in Esalen, am Ende der Nachmittagsrunde, als alles in überschwänglicher Stimmung lächelte, tanzte und die Rasenhänge hinauf- und hinabkollerte, gingen Alan und ich zu unserem Quartier zurück, umschlungen in ausgelassener Freude, uns gegenseitig über den Rücken streichelnd. Alan drehte sich zu mir und begann, auf seine imponierende und gewandte Art über unsere erfolgreiche gemeinsame Woche zu sprechen. Da bemerkte ich einen plötzlichen Durchbruch in seinem Ausdruck. Er hatte als ganzes etwas Lichtes, Strahlendes bekommen. Alan hatte eine neue Weise entdeckt, zu mir über seine Gefühle zu sprechen: »Yah ... ha ... ho ... ha! Ho ... La Cha Om Ha ... Deg deg te te ... Ta De De Ta Te Ta . . . Ha Te Te Ha Hom . . . Te Te Te ...!« Wir schwatzten Unsinn und tanzten den ganzen Hügel hinauf. Alle anderen verstanden, was wir sagten. Alan wusste auch, dass er es niemals — in all seinen Büchern nicht — besser gesagt hatte.

Während der Gedenkfeier für Alan Watts im Palace of the Fine Arts in San Francisco rief jemand aus dem Publikum Jano Watts zu: »Wie war das Leben mit Alan?« Ihre Antwort war: »Nie langweilig. Er steckte voller Spaß und Überraschungen. Und die größte Überraschung war der sechzehnte November des letzten Jahres.« An diesem letzten Abend seines Lebens spielte Alan Watts mit Luftballons. Er sagte, das schwerelose, schwebende Gefühl dabei sei so, »wie wenn mein Geist meinen Körper verlässt«. In der Nacht trat er eine neue Reise des Geistes an, auf dem Wind reitend und lachend vor Freude.

Er ließ uns zurück, und wir vermissen ihn schmerzlich wegen seiner bravourösen Lebendigkeit als Mensch. Er hinterließ auch leere Seiten, zwei weitere geplante Kapitel voll »Spaß und Überraschungen« seines begonnenen Buches über das Tao. Viele von uns, mit denen er über sein Werk gesprochen hatte oder die ihm während der Sommerseminare über den Taoismus, als der Lauf des Wassers Ereignis wurde, begegnet waren, wussten, dass Alan zeigen wollte, wie die uralte, zeitlose chinesische Weisheit die Übel des Westens bestens beheben könne. Paradoxerweise durfte sie aber nicht als Medizin verstanden werden, als ein intellektuelles »Pillenschlucken«, sondern sie müsste freudig in unser ganzes Wesen einströmen und so unser individuelles Leben und dadurch die Gesellschaft verwandeln.

Elsa Gidlow, seine Nachbarin, die mit Alan lange Jahre befreundet war, sprach oft mit mir darüber. Sie bestätigte unsere Gespräche und schrieb mir Folgendes:


Er sah, dass der moderne Mensch der Technik durch den Versuch, absolute Kontrolle über die Natur (von der er sich selbst getrennt sah) und allen Nutzen der menschlichen Gesellschaft zu erlangen, in eine Falle geraten und dabei selbst versklavt worden war. Jede Kontrolle zieht eine weitere nach sich, bis der »Kontrolleur« selbst im Netz gefangen ist. Alan wies gerne auf Lao-tzus Rat für die Kaiser hin: »Ein großes Land soll man regieren, wie man einen kleinen Fisch brät: wenig.« Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Alan den »Lauf des Wassers« in menschlichen Dingen als eine schlappe, verantwortungs- und energielose Lebensweise sah. Der Strom fließt nicht nur abwärts. Das Wasser, jegliche Feuchtigkeit steigt von der Erde, von den Flüssen, vom Meer in die Luft empor wie ein »Ausatmen«, und dann kommt das »Einatmen«, wenn die Feuchtigkeit als Tau, als Regen wieder abwärts geht - ein wunderbarer Zyklus, eine lebendige Wechselwirkung: Nichts beherrscht ein anderes, es gibt keinen »Boss«, doch alles geschieht, wie es sich gehört, tse jen.

Wir können nur erraten, wie Alan in seinen Schlusskapiteln die Erkenntnis dargestellt hätte, dass der Westen den Weg des Tao braucht und danach leben muss. Wir wissen nur, dass er verwandelt wurde, als er sich ihm öffnete, so dass der reservierte, etwas zugeknöpfte junge Engländer mit seiner Kopflastigkeit in seinen reifen Lebensjahren ein extravertierter, spontan spielerischer, fröhlicher Weiser dieser Welt wurde. Er glaubte daran, dass der Westen sich ähnlich verwandeln könnte, wenn die profunde Weisheit des Taoismus auf breiter Basis angenommen würde. Dieses Buch sollte sein Beitrag zu diesem Wandlungsprozess sein.

Als nun alle mich dazu ausersahen, dieses Buch fertigzustellen, erkannte ich, dass ich keinen Versuch machen durfte, Alan zu imitieren oder in seinen Geist zu schlüpfen, sondern zeigen musste, welches Ziel er — so wie ich ihn kannte — erreicht hatte. Zuerst waren meine Gedanken sentimental und schwärmerisch. In meiner Erinnerung erlebte ich wieder, wie Alan Watts gewesen war. Ich wollte mit den Lesern den ganzen Menschen Alan teilen, nicht bloß seinen Verstand und seine Worte. Ich schrieb von unserer ersten Begegnung, als wir am Strand von Santa Barbara tanzten, von unserer ersten gemeinsamen orientalischen Mahlzeit, als Alan mehr Japanisch sprach als ich. Ich schrieb über aufregende Ereignisse und Augenblicke in unseren zahlreichen gemeinsamen Seminaren, die Alans natürliches Tao als Lehrender unter Beweis stellten.

Ich erinnere mich an eine Silvesterfeier, als wir einen blinden Trommler inspirierten, den Rhythmus unseres kursiven, kalligraphischen Dialogs zu trommeln. Und jeder begann, nach den Bewegungen unserer spritzenden, klecksenden Tuschepinsel spontan die individuellen Pinselstriche seines eigenen Körpers zu tanzen. Ein anderes Mal führten Alan und ich ein blindes Mädchen in unseren Geist-Körper, indem wir sie so berührten und uns so mit ihr bewegten, dass sie durch ihre innere Schau allmählich sehen und fühlen lernte. Ich erinnere mich an Rituale und Spiele: Trauungen, die wir aus einer steifen Prozedur heraus und in den wahren Geist von Liebe und Vereinigung führten; improvisierte chanoyo- oder Tee-Zeremonien ohne authentische Geräte, doch so ausgeführt, dass ihre innere Würde bewahrt blieb.

Alan Watts war ein philosophischer Spaßmacher, und das wusste er auch. Am wichtigsten war ihm, dass er sich selbst und dass sein Publikum sich unterhalten sollten. Er hob mit Leichtigkeit den üblichen akademischen Ernst mit seinem pflichtbewussten Studium auf eine neue und höhere Ebene eines fröhlichen Spielens im natürlichen Wachstum.

Und doch sind all diese Erinnerungen nur Gedanken an die Vergangenheit. Was geschieht Alan jetzt? Was macht er jetzt für »Spaß und Überraschungen«?

Am Silvesterabend 1973/74, während Alans neunundvierzigtägiger Bardo-Reise (nach tibetischer und chinesischer Vorstellung die Stufen zwischen Tod und Wiedergeburt) und nur wenige Tage vor seinem achtundfünfzigsten Geburtstag, hatte ich einen merkwürdigen Traum, in dem sich Raum-Zeit-Menschen gegenüberstanden. Ich meinte, ich sei in China, während Mönche für den Bardo meines Vaters sangen. Dann verwandelte sich der Ort in Alans runde Bibliothek, wo Alan selbst die Andacht leitete und mit der Stimme meines Vaters Chinesisch sprach. Ich spielte die Flöte, aber der Klang, den ich erzeugte, war der eines Gongs vermischt mit Schlägen auf einen Holzklotz. Dann verwandelte sich Alan in meinen Vater und redete in einer nicht erkennbaren, jedoch völlig verständlichen Sprache. Seine dröhnende, widerhallende Stimme ging allmählich in den Klang der Bambusflöte über, die ich, von seinen Lippen lesend, spielte. In meiner Vision raste ich auf die dunkle, sich bewegende Leere zwischen seinen Lippen zu, ich trat in einen Klangraum voll wirbelnder Farben und Lichter, tiefer und tiefer in die Stille des anhaltenden Flötentons. Ich wachte auf und wusste nicht, wer ich war, noch wann und wo sich das abspielte. Danach flog ich den Himmel entlang (mit einem Flugzeug?) und landete in Alans Bibliothek zu Mittag am Neujahrstag.

Zum ersten Mal seit seinem Tod im November spürte ich, dass ich ihm wirklich nahe war. Ich setzte mich auf das Sims außerhalb des großen Fensters, vor dem ein Altar stand mit Alans Asche, und ließ das Echo meiner Bambusflöte über Tal und Berge klingen. Es war ein klarer und schöner Tag. Dann zog ich Janos Kletterschuhe an, warf mir eine Decke über, nahm Alans tibetischen Wanderstock und ging auf dem schmalen Pfad tief in den Wald hinein. Der Klang meiner Flöte brachte mein ganzes Inneres zu Alan, zu allem, was der ewige Geist-Leib ist. Als ich denselben Weg zurückkam, öffnete sich eine orchideenartige Blume, gerade als ich die Höhe erklommen hatte, zu meinen Füßen in voller Blüte. Ich fragte die Orchidee: »Was ist das Tao für jeden Tag?« Die Orchidee, Lan — die zweite Silbe in Alans Namen auf chinesisch — antwortete: »Nichts Besonderes.«

Die Natur brüstet sich nicht, dass sie Natur ist, noch hält das Wasser über die Technik des Fließens eine Tagung ab. So viel Gerede wäre an die verschwendet, die es nicht brauchen. Der Mensch des Tao lebt im Tao wie ein Fisch im Wasser. Wenn wir dem Fisch beizubringen versuchen, dass Wasser physikalisch aus zwei Drittel Wasserstoff und einem Drittel Sauerstoff besteht, würde er sich schieflachen.

(- - -)

Ich höre jetzt, wie Alan lacht. Jedes Mal, wenn ich mich in meinen Gedanken verrenne, wende ich mich an ihn. Und in allen unseren geistigen Zwiegesprächen waren Alans Antworten unentwegt und einfach: »Ha, ha, ha, ha, ha! Ho, ho, ho, ho, ho! Hahahahahahaha-ha ha...!« Lasst uns miteinander lachen, aus ganzem Herzen, alle Menschen des Tao, denn, in den Worten Lao-tzus, »wenn es kein Lachen gäbe, so wäre das Tao nicht das, was es ist«.


Wenn es stimmt, was in dem Wikipedia-Artikel angesprochen wird, dass Alan Watts gegen Ende seines Lebens unter Alkoholproblemen litt, so verweist das darauf, dass seiner Seele etwas fehlte, was er nicht anders als mit dieser Sucht ersetzen konnte. Wenn das Tao ihn wieder auf die Erde bringt, wird er dies zu bearbeiten haben. Ein Urteil über all das steht uns nicht zu. Sonst müssten wir genauso an dem Lebenswerk Luthers, der mit zunehmendem Alter immer cholerischer geworden war, und Anderen zweifeln.
Es bleiben die Früchte ihres Lebens, die anzunehmen uns überlassen bleibt.