Man kann den lieblosen Erwachsenen, den Chopich/Paul so treffend charakterisiert haben, literarisch kaum trefflicher umsetzen, als das dem jungen Goethe in seinem Briefroman, mit dem er wie mit sonst keinem Werk mehr in Deutschland Aufnahme und Beachtung fand, in der Gestalt des Medikus gelungen ist.
Wie in wenigen Sätzen der Doktor skizziert wird und wie dagegen Werthers innere Kinder sich ausleben im Spiel mit den Kindern Lottes, das ist einfach toll geschrieben.
Hier der erstarrte, innerlich verknöchterte Erwachsene, dessen innere Kinder vereist sind, da der junge Mann, der leben und das, was in im als Energie seiner inneren Kinder pulst, ausleben will:
Am 29. Junius
Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein großes Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten legt und einen Kräusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der Würde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich ließ mich aber in nichts stören, ließ ihn sehr vernünftige Sachen abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhäuser wieder, die sie zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und beklagte, des Amtmanns Kinder wären so schon ungezogen genug, der Werther verderbe sie nun völlig.
Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am nächsten auf der Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller Tugenden, aller Kräfte sehe, die sie einmal so nötig brauchen werden; wenn ich in dem Eigensinne künftige Standhaftigkeit und Festigkeit des Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, über die Gefahren der Welt hinzuschlüpfen, erblicke, alles so unverdorben, so ganz! - immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers der Menschen:"wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen!" und nun, mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen Willen haben! - haben wir denn keinen? Und wo liegt das Vorrecht? - weil wir älter sind und gescheiter! - guter Gott von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht - das ist auch was Altes! - und bilden ihre Kinder nach sich und - Adieu, Wilhelm! Ich mag darüber nicht weiter radotieren.
Werther wird auch daran scheitern und Selbstmord begehen, weil in ihm das Verhältnis von Erwachsenem und inneren Kindern nicht stimmig war.
In ihm war der innere Erwachsene nicht stark genug, als es gegolten hätte, dass der liebevolle innere Erwachsene, der auch eine machtvolle, kompetente Persönlichkeit in uns sein will, den Teil in Werther, der sich die ganze Zeit glaubt ausleben zu müssen, in das angemessene Flussbett der Seele zurückruft.
Um zum Ziel zu kommen, kann die Seele nicht die ganze Zeit über die Ufer treten.
Das ist immer wieder notwendig, dass auch in uns der Erwachsene den inneren Kindern die Fließ-Richtung weist.
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