Gut, ich habe keine sonderlich glückliche Kindheit gehabt. Vielleicht liegt es daran, dass ich skeptisch bin, wenn jemand mir sagt, er habe eine glückliche gehabt und seine Eltern seien lieb zu ihm gewesen. Bei manchen Menschen kommt das so einschränkungslos rüber, dass diese Einschätzung schon ihren Grund haben mag ...
Auch in meiner Familie, unter uns Geschwistern, ist die Sichtweise auf meine Eltern und unsere Ursprungsfamliie durchaus unterschiedlich.
Sie hängt schlicht und ergreifend mit der Position zusammen, die jedes Kind im Rahmen der Familie einnahm und - wenn sie nicht aufgedeckt, angesprochen und bearbeitet wird - einnimmt mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Leben.
Hat ein Kind eine privilegierte Position, dann wird es zu einem anderen Urteil kommen als ein Geschwister, dass seinen ihm zustehenden Anteil im Rahmen der Familie nie bekommen hat und im Leben womöglich aus scheinbar unerfindlichen Gründen immer der Loser sein wird. Die Wurzeln aber liegen in der Usprungsfamilie: Hier liegen die Gründe, warum das eine Kind Professor wird, das andere kaufmännischer Angestellter, warum der eine zum Drogenabhängigen wird, der andere zu jemandem, der eine Familie gründet und gar nicht verstehen kann, wie jemand aus der eigenen Familie so abgleiten kann. Wo doch die Familie so intakt war.
Sie war es eben nur für ihn! Und das auch nur an der Oberfläche.
Wenn man eine Familienaufstellung macht (wer dieses Verfahren nicht kennt, Video auf dieser Seite anschauen), kommt in aller Regel heraus, wo man selbst im Rahmen seiner Familie steht und ob Vater und Mutter einen z.B. anschauen oder nicht. Und wen sie anschauen. Vielleicht ist es sogar so, dass der Vater oder die Mutter verdeckt sind durch Geschwister, dass also jemand zwischen den Eltern und einem selbst steht ... jede Familie hat ja ihre eigene Charakteristik. Und niemand möge annehmen, die Wirkung der Familienstruktur lasse mit dem Tod der Eltern nach. Im Gegenteil. (Vorsicht nur bei der Auswahl des Familienaufstellers: Da dilettieren mittlerweile ziemlich viele verantwortungslos herum).
Ein weiterer Punkt, was die Beurteilung der Familie betrifft, ist einfach, dass Glück und Liebe relativ sind. Was für den einen schon Liebe ist, es es für einen anderen noch lange nicht. Und genauso verhält es sich mit Glück.
Als Kinder übernehmen wir, was unsere Eltern als Liebe definieren, und sei diese Definition auch reduziert.
Im Folgenden zitiere ich eine Passage aus oben erwähntem Buch, über das ich an anderer Stelle etwas ausführlicher informiert habe.
Ed Kennedy wird von einem ihm Unbekannten angehalten, sich der Lösung von Aufgaben zu stellen, Botschaften zu überbringen, die er mittels Karten, Assen genauer gesagt, erhält. Insgesamt wird er vier Asse erhalten und dann noch die Joker-Karte. Manchmal muss er der Botschaft zuliebe gewaltige Prügel einstecken, manchesmal erlebt er unglaublich Schönes.
In der folgenden Szene hat er eine Aufgabe zu lösen, eine Botschaft zu überbringen, aber er weiß nicht an wen, er weiß nur, dass sie mit einer Kneipe, dem Melusso´s zusammenhängt.
Nachdem er seinen baufälligen und furchtbar stinkenden Hund namens Türsteher versorgt hat - mit ihm unterhält er sich immer per Gedankensprache - macht er sich auf den Weg.
Der folgende Buchausschnitt stammt aus Teil III "Schwere Zeiten für Ed Kennedy"; seine Aufgaben erhielt er auf einem Pik Ass; wir befinden uns im Rahmen der zweiten Aufgabe des Pik Ass:
Ich betrete das Restaurant, den allumfassenden Duft und die Wärme von Spagettisoße, Pasta und Knoblauch. Ich halte die Augen offen, ob mir irgendjemand folgt, aber ich habe keinen Menschen bemerkt, der auch nur das mindeste Interesse an mir gezeigt hätte. Nur Leute, die tun, was sie zu tun gewohnt sind.
Sich unterhalten. Falsch parken.
Fluchen. Ihren Kindern sagen, dass sie sich beeilen und aufhören sollen zu heulen.
Solche Sachen.
Im Restaurant bitte ich die Kellnerin, mir einen Tisch in der dunkelsten Ecke zu geben.
»Da drüben?«, fragt sie entgeistert »Neben der Küche?«
»Ja, bitte.«
»Da wollte noch niemand freiwillig sitzen«, erklärt sie. »Sind Sie ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
Was für ein sonderbarer Kerl, denkt sie zweifellos, aber sie führt mich zu dem Tisch.
»Weinkarte?«
»Wie bitte?«
»Möchten Sie einen Wein trinken?«
»Nein, danke.«
Sie fegt die Weinkarte vom Tisch und nennt mir die Empfehlungen des Hauses. Ich bestelle Spagetti Bolognese und Lasagne.
»Erwarten Sie noch jemanden?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
»Sie wollen beide Gerichte essen?«
»Oh, nein«, antworte ich. »Die Lasagne ist für meinen Hund. Ich habe versprochen, dass ich ihm etwas mitbringe.«
Diesmal bedenkt sie mich mit einem Blick, der sagt: »Was für ein erbärmlicher, einsamer Kerl«, was völlig verständlich ist, nehme ich an. Aber sie sagt: »Ich bringe Ihnen die Lasagne, bevor Sie gehen, einverstanden?«
»Ja, danke.«
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke.«
Ich trinke nie etwas in einem Restaurant, denn ein Getränk kriege ich überall. Aber kochen kann ich nicht und nur deshalb gehe ich überhaupt in Restaurants.
Sie geht weg und ich schaue mich um. Die Hälfte der Tische ist besetzt. Menschen schlagen sich die Bäuche voll, andere trinken Wein, während sich ein junges Pärchen über den Tisch hinweg küsst und sich gegenseitig mit Nudeln füttert. Die einzig interessante Person ist ein Mann, der an derselben Wand sitzt wie ich. Er wartet auf jemanden, trinkt Wein, isst aber nichts. Er trägt einen Anzug und hat sein welliges silberschwarzes Haar glatt zurückgekämmt.
Kurz darauf kommt die Spagetti Bolognese und gleichzeitig die volle Bedeutung dessen, warum ich hier bin.
Ich hätte mich beinahe verschluckt, als die Begleitung des Mannes an den Tisch tritt. Er steht auf, küsst sie und legt ihr die Hände auf die Hüften.
Die Frau ist Beverly Anne Kennedy.
Bev Kennedy.
Auch bekannt als meine Mutter.
Oh, Scheiße, denke ich und ziehe den Kopf ein.
Aus irgendeinem Grund fühle ich mich, als müsste ich mich gleich übergeben.
Meine Mutter trägt ein schmeichelndes Kleid. Es ist dunkelblau und glänzend. Die Farbe erinnert mich an eine stürmische Nacht. Graziös setzt sie sich hin. Ihr Haar rahmt ihr Gesicht weich ein.
Kurz gesagt: Dies ist das erste Mal, dass sie in meinen Augen tatsächlich wie eine Frau aussieht. Normalerweise ist sie lediglich meine kratzbürstige Mutter, die mich beschimpft und mich einen nutzlosen Versager nennt. Heute Abend aber trägt sie Ohrringe und ihr dunkles Gesicht und die braunen Augen lächeln. Sie zeigt ein paar Falten, wenn sie lächelt, aber ja, sie sieht glücklich aus.
Sie wirkt glücklich als Frau.
Der Mann ist ein echter Gentleman, schenkt ihr Wein ein und fragt sie, was sie essen möchte. Sie unterhalten sich mit offenkundigem Vergnügen und einer gewissen Gelassenheit. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ehrlich gesagt versuche ich es auch gar nicht.
Ich denke an meinen Vater.
Ich denke an ihn und bin sofort niedergeschlagen.
Frag mich nicht, warum, aber ich habe den Eindruck, dass er etwas Besseres verdient hat.
Natürlich war er ein Säufer, besonders gegen Ende seines Lebens, aber er war so freundlich, so großzügig und sanft. Ich schaue in meine Spagettisoße und sehe sein Gesicht vor mir, sein kurzes schwarzes Haar und seine fast farblosen Augen. Er war ziemlich groß, und wenn er zur Arbeit ging, trug er immer ein Flanellhemd und hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Zu Hause rauchte er nie. Nicht im Haus jedenfalls. Auch er war ein Gentleman, trotz allem.
Ich denke auch daran, wie er, nachdem die Kneipe zugemacht hatte, durch die Haustür getorkelt kam und sich aufs Sofa fallen ließ.
Natürlich brüllte meine Mutter ihn an, aber es nutzte nichts.
Sie piesackte ihn sowieso jeden Tag. Er arbeitete sich den Hintern wund, aber es war nie genug für sie. Erinnerst du dich noch an die Sache mit dem Beistelltisch? Mit so etwas musste sich mein Vater jeden Tag herumschlagen.
Als wir jünger waren, hat er oft Ausflüge mit uns Kindern unternommen, zum Nationalpark, an den Strand und zu einem etwas weiter entfernten Spielplatz mit einem riesigen Raumschiff aus Metall. Nicht so wie die Spielplätze, auf denen die armen Kinder heutzutage spielen müssen - überall nur Plastik, zum Kotzen. Er unternahm viel mit uns und schaute schweigend zu, wie wir spielten. Manchmal blickten wir zu ihm, und dann saß er da, rauchte zufrieden und träumte vor sich hin. Die erste Erinnerung meines Lebens ist meine Wenigkeit im Alter von vier Jahren, wie ich auf Gregor Kennedv, meinem Vater, Huckepack ritt. Damals war die Welt noch nicht so groß und ich konnte alles sehen. Damals war mein Vater ein Held und kein Mensch.
Jetzt sitze ich hier und frage mich, was ich als Nächstes tun muss.
Meine erste Tat ist der Entschluss, meinen Teller nicht leer zu essen. Ich beobachte meine Mutter und ihren Begleiter. Es ist nicht zu übersehen, dass die beiden nicht zum ersten Mal hier sind. Die Kellnerin kennt sie und bleibt kurz an ihrem Tisch stehen, um ein paar Worte zu wechseln. Sie fühlen sich wohl in der Gesellschaft des anderen. Ich will bitter sein und zornig, aber ich bremse mich noch rechtzeitig. Was für einen Sinn hätte das? Immerhin ist sie ein Mensch und hat das Recht, glücklich zu sein, genauso wie jeder andere.
Erst ein paar Minuten später begreife ich meinen ersten Impuls, ihr das offensichtliche Glück zu neiden.
Es hat nichts mit meinem Vater zu tun.
Es hat mit mir zu tun.
In einem plötzlichen Anfall von Übelkeit erkenne ich den absoluten Horror der Situation:
Da sitzt meine Mutter, etwas über fünfzig Jahre alt, und flirtet ungeniert mit irgendeinem Typen - und hier sitze ich, in der Blüte meiner Jugend, ganz und gar allein.
Ich schüttele den Kopf.
Über mich selbst.
Die Kellnerin räumt die restlichen Spagetti ab und bringt die Lasagne des Türstehers in einer billigen Aluschale. Er wird sich darüber vermutlich sehr freuen.
Ich husche zum Tresen und bezahle, schaue mich noch einmal nach meiner Mutter und dem Mann um, vorsichtig, um nicht gesehen zu werden. Aber sie ist völlig in ihn versunken. Sie starrt ihn an und lauscht seinen Worten mit einer solchen Intensität, dass ich mir keinerlei Mühe mehr gebe, meine Anwesenheit zu verbergen. Ich bezahle und verlasse das Restaurant, gehe aber nicht heim.
Ich laufe zum Haus meiner Mutter und warte auf der Veranda.
Das Haus riecht nach meiner Kindheit. Ich kann riechen, wie der Duft unter der Tür nach draußen kriecht, während ich auf dem kühlen Betonboden hocke.
Die Nacht funkelt vor Sternen. Ich lege mich auf den Rücken und schaue hinauf, verliere mich dort oben. Ich habe das Gefühl, als würde ich fallen, aber nach oben, hinein in den Abgrund des Himmels über mir.
Das Nächste, was ich fühle, ist ein Fuß, der mich anstupst.
Ich wache auf und richte meine Augen auf das Gesicht, das zu dem Fuß gehört.
»Was willst du denn hier?«, fragt sie.
So ist meine Mutter.
Die Freundlichkeit in Person.
Ich stütze mich auf den Ellbogen auf und beschließe, nicht um den heißen Brei herumzureden.
»Ich wollte dich fragen, ob du dich im Melusso's gut amüsiert hast.«
Ein Ausdruck der Überraschung fällt ihr aus dem Gesicht, obwohl sie versucht, ihn aufzuhalten. Er löst sich und erst dann bekommt sie ihn zu fassen und dreht ihn hin und her. »Es war sehr nett«, sagt sie, aber ich merke, dass sie versucht, Zeit zu gewinnen, um sich ihre Argumente zurechtzulegen. »Eine Frau muss leben.«
Ich setze mich auf. »Na klar.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ist das der einzige Grund, warum du hier bist - um mir vorzuhalten, dass ich mit einem Mann zum Essen verabredet war? Ich habe Bedürfnisse, weißt du?«
Bedürfnisse.
Hör sie dir an.
Sie geht an mir vorbei zur Tür und steckt den Schlüssel ins Schloss. »Also, Ed, wenn du nichts dagegen hast - ich bin sehr müde.«
Jetzt.
Der Moment.
Beinahe hätte ich gekniffen, aber heute Abend stehe ich auf. Ich weiß ganz genau, dass ich der einzige Spross dieser Frau bin, den sie in einer solchen Situation nicht ins Haus bitten wird. Wenn meine Schwestern hier wären, würde sie jetzt schon Kaffee kochen. Wenn es Tommy wäre, würde sie ihn fragen, ob ihn seine Professoren an der Universität gut behandeln, und ihm eine Cola und ein Stück Kuchen anbieten.
Aber an mir, Ed Kennedy, ganz genauso ihr Fleisch und Blut wie ihre anderen Kinder, geht sie vorbei. Mir verweigert sie die Freundlichkeit, mich bittet sie nicht herein. Ich wünsche mir, dass sie nur ein einziges Mal ein kleines bisschen liebenswürdig zu mir ist.
Die Tür hat sich schon fast geschlossen, da halte ich sie mit der Hand auf.
Es erklingt ein Geräusch, als ob jemand eine Ohrfeige bekommen hätte.
Ihr Gesicht wird hart.
Ich spreche, deutlich und unmissverständlich.
»Ma?«, sage ich.
»Was?«
»Warum hasst du mich so sehr?«
Jetzt schaut sie mich an, diese Frau, während ich mich bemühe, dass meine Augen mich nicht verraten.
Tonlos, ohne Umschweife, antwortet sie mir.
»Weil du mich so sehr an ihn erinnerst, Ed.«
Ihn?
Dann begreife ich.
Ihn - an meinen Vater.
Sie geht ins Haus und die Tür schlägt zu.
Ich war gezwungen, einen Mann zu den Klippen zu bringen und so zu tun, als wollte ich ihn umbringen. Zwei Schläger haben in meiner Küche Pasteten gegessen und mich grün und blau geprügelt. Und ich musste mich von ein paar aufgebrachten Teenagern vermöbeln lassen.
Doch dies ist meine dunkelste Stunde.
Da stehe ich.
Verletzt.
Auf der Veranda meiner Mutter.
Der Himmel öffnet sich, fällt auseinander.
Ich möchte mit meinen Händen und meinen Füßen gegen die Tür hämmern.
Ich tue es nicht.
Ich sinke nur auf die Knie, gefällt, niedergemäht von der Brutalität ihrer Worte. Ich versuche, etwas Gutes darin zu sehen, denn ich habe meinen Vater geliebt. Abgesehen von seinem Alkoholproblem glaube ich nicht, dass es eine Schande ist, ihm ähnlich zu sein.
Warum fühle ich mich dann so schrecklich?
Ich rühre mich nicht.
Im Gegenteil - ich schwöre mir, dass ich diese beschissene Veranda nicht verlassen werde, bis ich die Antworten bekommen habe, die mir zustehen. Ich werde hier schlafen, wenn es sein muss, und morgen den ganzen Tag in der sengenden Hitze hier warten. Ich stehe auf und rufe.
»Ich gehe nicht weg, Ma!« Noch einmal. »Hörst du mich? Ich gehe nicht weg.«
Nach etwa einer Viertelstunde wird die Tür aufgezogen, aber ich schaue meine Mutter nicht an. Ich drehe mich um und spreche die Straße an, sage: »Du behandelst die anderen so gut - Leigh, Kath und Tommy. Es ist, als ob...« Ich lasse nicht zu, dass ich schwach werde. Ich halte mich zurück. »Aber mir gegenüber benimmst du dich so, als würdest du mich nicht im Mindesten respektieren. Dabei bin ich derjenige, der hier ist.« Jetzt schaue ich sie an. »Ich bin hier, wenn du etwas brauchst. Und jedes Mal wenn du mich um etwas bittest, tue ich es, oder etwa nicht?«
Sie nickt. »Ja, Ed.« Im nächsten Moment stürzt sie sich wie ein Habicht auf mich. Sie greift mich mit ihrer Version der Wahrheit an. Die Worte schneiden mir so messerscharf in die Ohren, dass ich fast erwarte, es müsse Blut aus ihnen hervorquellen. »Ja, du bist hier und genau das ist der Punkt!« Sie breitet die Arme aus. »Schau dir dieses Dreckloch an! Das Haus, die Stadt, einfach alles.« Ihre Stimme ist dunkel. »Und was deinen Vater angeht - er hat mir versprochen, dass wir eines Tages von hier weggehen würden. Er hat mir versprochen, dass wir packen und wegziehen würden, und schau dir an, wo wir sind, Ed. Wir sind immer noch hier. Ich bin hier. Du bist hier und genau wie bei deinem alten Herrn kommt von dir auch nur leeres Geschwätz. Nur Worte, keine Taten. Du...« Giftig deutet sie mit dem Finger auf mich. »Du könntest genauso viel erreichen wie die anderen. Sogar so viel wie Tommy... Aber du bist immer noch hier und du wirst auch in fünfzig Jahren noch hier sein.« Sie klingt so kalt. »Und du wirst nichts aus dir gemacht haben.«
Die Stimme verklingt zu Schweigen.
Sie bricht es wieder. »Ich will doch nur«, sagt sie, »dass du dein Leben nicht vergeudest.« Langsam kommt sie auf die Stufen zu und sagt: »Ich möchte, dass dir etwas klar wird, Ed.«
»Was?«
Ganz vorsichtig schiebt sie den Satz aus ihrem Mund. »Ob du es glaubst oder nicht - es bedarf einer Menge Liebe, um jemanden so zu hassen.«
Ich versuche zu begreifen.
Sie steht immer noch auf der Veranda, als ich hinunter in den Vorgarten gehe. Ich drehe mich um.
Mein Gott, ist das dunkel.
So dunkel wie das Pik-Ass.
»Hast du dich schon mit diesem Mann getroffen, als Dad noch am Leben war?«, will ich von ihr wissen.
Sie schaut mich an, wünscht sich, dass sie es nicht tun müsste, und obwohl sie nichts sagt, weiß ich es. Ich weiß, dass sie nicht nur meinen Vater hasst, sondern auch sich selbst. Und dann wird mir bewusst, dass sie sich irrt.
Es ist nicht die Stadt, denke ich. Es sind die Menschen.
Wir wären dieselben, egal wo wir uns befänden.
Wieder spreche ich. Eine letzte Frage.
»Hat Dad es gewusst?«
Langes Schweigen.
Ein Schweigen, das tötet, bis meine Mutter sich abwendet und weint. Die Nacht ist so tiefschwarz, dass ich mich frage, ob die Sonne jemals wieder aufgeht.
Diese Passage enthält unglaublich viel, und keine Frage: Ed Kennedy erfährt sehr viel, was für ihn wertvoll ist.
Ganz offensichtlich ist, welche Rolle, welche Position er in der Familie einnimmt. Ihm selbst ist klar, dass seine Mutter seine Geschwister Tommy und Kathie ganz anders behandelt.
Diese Position allerdings müsste er noch viel klarer sehen, um deren ganzes Ausmaß zu erkennen, warum zum Beispiel nämlich seine Geschwister erfolgreich sind und nicht von ungefähr das Weite gesucht haben und er Taxifahrer ist in einem Betrieb, in dem der Chef so mit ihm umgeht, wie es sonst nur seine Mutter mit ihm tut, und warum er noch in der Nähe der Mutter wohnt.
Jede Familie hat ein bestimmtes Maß an Familienenergie, die auch mit der Kraft der Ahnen zusammenhängt, die hinter Vater und Mutter, Oma und Opa väterlicher- und mütterlicherseits stehen. Die Bibel noch wusste um die Bedeutung dieser Familienenergie, deshalb werden im Alten Testament so ausführlich und recht oft Stammbäume aufgelistet.
Das kommt nicht von ungefähr; dahinter steht das Bewusstsein der Lebensweisheit, dass Familien und Stammbäume sehr viel zu vergeben haben, sehr viel Lebensenergie.
Ist Ed sich zudem klar über die Bedeutung dessen, wie seine Mutter ihn weckt? – Mit dem Fuß?! Eine Mutter stupst ihr Kind nicht mit dem Fuß wach. Es ist derselbe Fuß, der verbal ständig zutritt. Es scheint nicht so, dass Ed Kennedy sich dessen bewusst ist, wohl aber glaubt man zu spüren, dass er auf dem Weg zur Wahrheit ist.
Jede Familie hat ein bestimmtes Maß an Familienenergie, die auch mit der Kraft der Ahnen zusammenhängt, die hinter Vater und Mutter, Oma und Opa väterlicher- und mütterlicherseits stehen. Die Bibel noch wusste um die Bedeutung dieser Familienenergie, deshalb werden im Alten Testament so ausführlich und recht oft Stammbäume aufgelistet.
Das kommt nicht von ungefähr; dahinter steht das Bewusstsein der Lebensweisheit, dass Familien und Stammbäume sehr viel zu vergeben haben, sehr viel Lebensenergie.
Ist Ed sich zudem klar über die Bedeutung dessen, wie seine Mutter ihn weckt? – Mit dem Fuß?! Eine Mutter stupst ihr Kind nicht mit dem Fuß wach. Es ist derselbe Fuß, der verbal ständig zutritt. Es scheint nicht so, dass Ed Kennedy sich dessen bewusst ist, wohl aber glaubt man zu spüren, dass er auf dem Weg zur Wahrheit ist.
Die Frage darf dennoch gestellt werden: Bringt diese Stelle ihn entscheidend weiter?
Aus noch anderen Gründen: Nein! – Um es genauer zu formulieren: Noch nicht.
Zu sehr darf die Mutter bleiben, wie sie ist.
Zu sehr bleibt ihre Kosmetik bestehen, etwas in ihrer Aussage: "Es bedarf einer Menge Liebe, um jemanden so zu hassen."
Das klingt gut, so ein Satz, ja, ist er - psychologisch gesehen - nicht sogar wahr?
Ja, so raffiniert sind solche Antworten, dass man denkt: Vielleicht hat sie doch einen guten Kern! Tut sie nicht doch im Grunde alles aus Liebe?
Und schon ist man im Seichten, da, wo die Mutter ihren Ed haben will.
Die Wahrheit aber ist:
Diese Antwort ist im Grunde eine Verhöhnung ihres Sohnes.
Genauso wie ihre Aussage: "Ich will doch nur, dass du dein Leben nicht vergeudest."
Darum geht es ihr nicht im Geringsten.
Dazu braucht man das Buch nicht zu lesen, um das zu wissen. Denn das ist elterliche Strategie, dass sie ihre schrecklichen Programme hinter solchen Floskeln verstecken.
Ich will doch nur Dein Bestes.
Das ist meistens eine der größten Lügen, die Eltern aussprechen. Meistens muss man nämlich nur die Methoden anschauen, mit der sie dieses Beste durchsetzen wollen, um zu wissen, dass sie etwas durchsetzen, zu was sie ihr Inneres verdonnert.
So, wie mit ihnen umgegangen worden ist, so gehen sie in der Regel auch mit ihrem Kind um: Ich will doch nur dein Bestes!
Klar geht es nicht darum, ob Eltern böse sind. Das sind sie nicht. Sie geben weiter, wie mit ihnen umgegangen wurde, manchmal kaschieren sie es. Früher schlug man als Elternteil viel eher zu; heute ist das nicht mehr "in"; man schlägt keine Kinder - äußerlich. Effektiver kann man sie innerlich schlagen. Und das ist noch gemeiner, weil solche Schläge oft nicht als Gewalt enttarnt werden.
Doch auch hier geht es nicht um gut und böse. Auch meine Eltern gaben ihr "Bestes".
So viel "Bestes", dass ich alle Mühe habe, es zum Guten zu wenden ...
In der Buch-Szene steht Ed Kennedy auf. Auch das ist ein symbolischer Akt, und das Gute ist, Ed ist sich dessen bewusst. Er lässt sich nicht einfach rauswerfen.
Man muss sich das vorstellen: Diese Mutter wirft ihren Sohn raus. Sie wirft ihn so raus, wie sie ihn lieblos ins Leben geworfen hat, als der den Mutterleib verließ.
Solch eine Mutter wirft ihr Kind in das Dunkel des Lebens. Nicht, dass das Leben per se dunkel ist. Keineswegs. Aber für solche Kinder wie für Ed ist es das. Es ist so dunkel wie das Innere dieser Mutter.
Den Archetypus der Großen Mutter kennen wir aus der Psychologie. Und diese Große Mutter hat eine lichte, aber auch eine sehr dunkle Seite. Der leider viel zu früh verstorbene Arzt und Psychiater Erich Neumann hat ihre Wandlungsseiten in seinen Büchern vielfach aufgezeigt, u.a. in "Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten". Jede Frau nun nimmt an diesen Seiten mehr oder weniger Anteil. Manche Frauen und Mütter haben sehr viel Lichtes, manche allerdings auch sehr viel Dunkles. Eds Mutter ist eine von ihnen.
Markus Zusak bringt das zum Ausdruck, indem er die Nacht tiefschwarz sein lässt.
Ed spürt diese Schwärze, und das ist gut so. Aus dieser Schwärze kommt kein Ton. Aus diesen Schwarzen Löchern kommt kein Licht.
Ed beginnt NEIN zu sagen zu dieser Schwärze. Dadurch kann ihm immer mehr bewusst werden.
Deutlich wird dies am nächsten Weihnachtsfest, als sich die Familie bei der Mutter trifft. Da nimmt Ed Bezug auf die bereits oben zitierte Aussage der Mutter:
»Schau dir dieses Dreckloch an! Das Haus, die Stadt, einfach alles.« Ihre Stimme ist dunkel. »Und was deinen Vater angeht - er hat mir versprochen, dass wir eines Tages von hier weggehen würden. Er hat mir versprochen, dass wir packen und wegziehen würden, und schau dir an, wo wir sind, Ed. Wir sind immer noch hier. Ich bin hier. Du bist hier und genau wie bei deinem alten Herrn kommt von dir auch nur leeres Geschwätz. Nur Worte, keine Taten. Du...« Giftig deutet sie mit dem Finger auf mich. »Du könntest genauso viel erreichen wie die anderen. Sogar so viel wie Tommy... Aber du bist immer noch hier und du wirst auch in fünfzig Jahren noch hier sein.« Sie klingt so kalt. »Und du wirst nichts aus dir gemacht haben.«
Er enttarnt die dunkle Magie der Mutterworte, indem er sagt, als er die Weihnachtsfeier verlässt:
»Wenn du hier weggegangen wärst, wärst du trotzdem überall dieselbe Person gewesen.«
Und der Ich-Erzähler, also Ed, lässt uns weiter teilhaben:
Das ist eigentlich genug der Wahrheit, aber ich kann nicht schweigen. »Wenn ich jemals hier weggehen sollte ...« – ich muss schlucken – »dann werde ich dafür sorgen, dass ich zuerst hier ein besserer Mensch geworden bin.«
»Okay, Ed.« Sie ist verblüfft und ich empfinde Mitgefühl für diese Frau auf dieser Veranda in dieser armseligen Straße in dieser gewöhnlichen Stadt. »Hört sich gut an.«
»Bis bald, Ma.«
Ich bin weg.
Das musste mal gesagt werden.
Ed ist gewiss auf einem richtigen Weg, doch ich hoffe, dass er die wirkliche Gerissenheit der dunklen Mutter durchschaut; Mitleid mit dieser Mutter ist nicht angebracht. Noch lange, lange nicht!
»Wenn du hier weggegangen wärst, wärst du trotzdem überall dieselbe Person gewesen.«
Und der Ich-Erzähler, also Ed, lässt uns weiter teilhaben:
Das ist eigentlich genug der Wahrheit, aber ich kann nicht schweigen. »Wenn ich jemals hier weggehen sollte ...« – ich muss schlucken – »dann werde ich dafür sorgen, dass ich zuerst hier ein besserer Mensch geworden bin.«
»Okay, Ed.« Sie ist verblüfft und ich empfinde Mitgefühl für diese Frau auf dieser Veranda in dieser armseligen Straße in dieser gewöhnlichen Stadt. »Hört sich gut an.«
»Bis bald, Ma.«
Ich bin weg.
Das musste mal gesagt werden.
Ed ist gewiss auf einem richtigen Weg, doch ich hoffe, dass er die wirkliche Gerissenheit der dunklen Mutter durchschaut; Mitleid mit dieser Mutter ist nicht angebracht. Noch lange, lange nicht!
Dazu ist sie viel zu gerissen, um vieles gerissener, als Ed es ahnt und durchschaut; sie hat tausend Mittel, um ihren Jungen dennoch in Abhängigkeit zu halten. Denn er hat zu erfüllen, was sein Vater nicht tat: Er hat seine Mutter aus dem Dreckloch zu bringen. Er hat den Prinzen zu spielen, als der sein Vater kläglich versagte.
Und Ed hat noch ein Problem: Er idealisiert seinen Vater.
Es hat seinen Grund, dass sein Vater sich in diese Situation mit dieser Frau manövrierte.
Und wie seine Mutter auch ihre lichten Seiten hat, so hat sein Vater dunkle, vielleicht mehr, als Ed zu entdecken bereit ist. Es sind schließlich die, die auch er übernommen hat.
Dieses Buch zeigt am Schluss eine wunderbare Lösung auf, wie Ed sich befreien kann, wie er zum Autor seines Lebens wird.
Als Leser nehmen wir teil an dieser Entwicklung.
Dieses Buch - zu Recht erhielt es zahlreiche Preise, unter anderen den bedeutenden Deutschen Jugendliteraturpreis 2007 - ist eines der wenigen, das ich kenne, das Hoffnung macht. Es verweist am Schluss in einer nicht ganz leicht zu decodierenden Passage den Leser darauf, doch selbst Autor seines Lebens zu sein
Deshalb ist es unendlich wertvoll.
Ein weiterer Post zu Der Joker:
Kann man sich in ein Buch verlieben? – Man kann! –
Eine meiner Lieblingsszenen aus Markus Zusaks Der Joker