In dem, wie ich finde, besten Buch über unsere inneren Kinder, in "Das Kind in uns" von John Bradshaw, ist das 11. Kapitel dem Thema "Wie man das verletzte Kind in sich beschützt" gewidmet. Es geht darin um das "Geschenk von Zeit und Aufmerksamkeit" - ein Aspekt, der erklärt, warum Michael Endes Buch
Momo so bedeutsam für die inneren Kinder seiner Leser ist, und deren innere Erwachsene -, es geht um die Kommunikation mit dem inneren Kind, um eine neue Familie, die sie gegebenenfalls ihrem inneren Kind suchen müssen, und um die Kraft und den Schutz des Gebetes.
Eine bemerkenswerte Aussage von Bradshaw finde ich, dass das innere Kind jedes Erwachsenen wissen muss, dass er als Erwachsener - als Schutzinstanz also des eigenen inneren Kindes - selbst aus einer Quelle Schutz bekommt, die seine eigene Endlichkeit, die Endlichkeit des Erwachsenen also, übersteigt.
Einem Erwachsenen, der nicht an Gott glaubt, könnte es schwer fallen, seinem inneren Kind dies zu vermitteln. Aber der springende Punkt für dieses Urvertrauen in eine Macht in uns und über uns, die uns übersteigt - Bradshaw hätte sie auch einfach
Liebe nennen können - hängt eben genau mit dem eigenen Verhältnis zu Vater und Mutter zusammen. Sie sind die Instanzen in uns, die uns den Zugang zu einer höheren Macht, zur Liebe öffnen oder verschließen. Wer ein gebrochenes Verhältnis zu Vater und Mutter hat, wird nicht von vornherein Zugang zu der Bedeutung des wahren Vater oder der wahren Mutter haben, zu dem, was Ethnologen und Psychologen den Großen Vater und die Große Mutter nennen und was sich auch spiegelt in vielen Anfängen von Märchen, wenn von dem guten Vater und der guten Mutter, dem guten König und der guten Königin die Rede ist. Märchen geben ja Zeugnis davon, dass irgendwann der gute König und die gute Königin starben, eine Metapher dafür, dass uns Menschen das Bewusstsein für sie verloren ging. Nun sind wir als Märchenhelden unterwegs ...
Ich fürchte, dass vielen religiösen Menschen, die ein schwieriges Elternhaus hatten oder noch gar nicht entdeckt haben, dass dies der Fall war, nicht klar ist, dass ihrem Vertrauen in Gott die Wurzel, die Grundierung fehlt, ich formuliere vorsichtiger: fehlen könnte.
Ich spreche aus eigener Erfahrung.
Aus meiner eigenen Erfahrung als Kind und Jugendlicher mit sogenannten gläubigen Menschen ergibt sich für mich der Eindruck, dass viele dieses Problem durch eine Intensivierung religiöser Gefühle überspielen.
Ein mahnendes Beispiel ist mir mein eigener Vater, der vermittelte, tief gläubig zu sein, selbst Andachtsstunden hielt, im Kirchenvorstand intensiv mitarbeitete und alles dafür tat, Menschen zu Gott zu bekehren. Lange habe ich gebraucht zu durchschauen, dass seine ständigen Hinweise auf die Liebe Gottes nur kaschieren mussten, dass er selbst für sich und seinen Jungen keine Liebe hatte. Ich vermute, dass er sich dessen bedingt bewusst war.
In hohem Alter gestand er in einer stillen Stunde, dass er Angst vor dem Sterben habe und ich bin mir sicher, dass sein wochenlanger Todeskampf so lange währte, weil er das Leben nicht loslassen konnte - aus Angst. Seitdem bin ich sehr skeptisch, wenn Menschen sagen: Ich habe keine Angst vor dem Sterben; mit 60 oder 70 Jahren hätte das mein Vater vielleicht auch gesagt.
Als er vor dem Sterben in einer Art Koma lag und ich ihn im Krankenhaus besuchte, er mich aber auf einer bewussten Ebene nicht erkannte, blieb ich einfach eine Weile bei ihm an seinem Bett sitzen. Bevor ich ging, wollte ich für ihn noch etwas Liebes tun und weil ich wusste, wie viel ihm das
Vater unser bedeutete, betete ich mit ihm, besser gesagt, für ihn dieses Gebet Jesu. Ich weiß noch, dass es mich Mut kostete, nicht nur für mich, sondern öffentlich zu beten.
Es war eine Szene, die ich nie vergessen werde. In dem Raum lagen noch zwei Männer. Einer davon hatte mich bei meinem Eintritt gefragt, ob ich Besteck dabei habe oder ein Messer. Gott sei Dank hatte ich nichts davon dabei; mir kam erst später, dass er sich womöglich etwas antun wollte; sein Gesicht wirkte zerfurcht und voller tiefem Gram; seine Augen flackerten; sicherlich hatte er auch Schmerzen. Als ich zu beten begann, falteten er und der andere noch anwesende Mann die Hände, Letzterer murmelte das Gebet mit. Das Erschütterndste aber war für mich, dass mein Vater bei den Worten des
Vater unser "Und vergib uns unsere Schuld" tief aufstöhnte, er, der mich auf der bewussten Ebene nicht erkannt und auf meine Ansprache nicht reagiert hatte.
Ich bin mir relativ sicher, dass die beiden anderen Männer nicht religiös waren, aber während des
Vater unser war eine Atmosphäre in diesem Raum, die sich nicht beschreiben lässt. Vielleicht damit, dass ich sage: Es war in diesem Moment ein heiliger Raum. Heute glaube ich, der Raum war übervoll mit Engeln und dies, glaube ich, ist immer der Fall, wenn ein oder mehrere Menschen mit dem Herzen das
Vater unser beten.
Wie auch immer der einzelne Erwachsene das anstellen mag, John Bradshaw lässt keinen Zweifel: Das innere Kind braucht das Wissen, dass es eine höhere Macht, eine höhere heilige Macht gibt. Er schreibt, an seine Leser gewandt über die Bedeutung des Gebetes für sich und sein inneres Kind, den kleinen John:
Das Gebet ist eine wunderbare Quelle des Schutzes für das verletzte Kind in Ihnen, und es wird nur zu gern gemeinsam mit Ihnen beten. Ich schließe dabei immer die Augen und stelle mir das Kind in mir vor, gleichgültig, in welchem Alter, es erscheint, Ich nehme es entweder auf den Schoß, oder wir knien beide nebeneinander und beten. Ich spreche ein erwachsenes Gebet und der kleine John ein Kindergebet. Abends betet er am liebsten: "Müde bin ich, geh zur Ruh ..." Manchmal beten wir das auch gemeinsam. Das "Memorare" ist ein Gebet, dass ich in der katholischen Grundschule gelernt habe, und wendet sich an die Mutter Gottes. Ich habe es gern, wenn meine Spiritualität weibliche Kraft enthält. Ich stelle mir Gott als eine mütterliche, zärtliche Instanz vor. Sie hält mich und wiegt mich in ihren Armen. Das gefällt auch dem kleinen John.
Gedenke, o gebenedeite Jungfrau, daß noch nie ein Mensch, der deinen Schutz gesucht, dich um Hilfe angefleht oder um eine Fürsprache gebeten hat, nicht erhört worden ist. Ich flehe zu dir, o Jungfrau aller Jungfrauen, zu dir, meiner Mutter. Ich komme zu Dir; als Sünder und voller Kummer stehe ich vor deinem Angesicht. Weise mich nicht zurück, sondern erhöre gnädig mein Gebet. Amen
Dem Erwachsenen in mir gefallen diese ständigen Hinweise auf die Jungfräulichkeit nicht so sehr, weil ich nicht glaube, dass Maria eine Jungfrau war. Aber das Gebet hat mir schon oft sehr geholfen. Ich habe dem kleinen John davon erzählt und er war sehr beeindruckt. Sie müssen sich selbst die Gebete aussuchen, die Ihnen und dem Kind in Ihnen helfen. Ich lege es Ihnen aber dringend ans Herz, sich selbst und ihrem verletzten inneren Kind nicht den mächtigen Schutz zu versagen, der dem Gebet entspringt.
Wirklich wirkt die tiefe Frömmigkeit John Bradshaws, selbst da, wo er von sich als eines Erwachsenen spricht, wie die eines Kindes. "Wenn ihr nicht werdet wir die Kinder ..." heißt es in der Bibel.
Bleibt noch anzumerken, dass für mich die Jungfräulichkeit Marias sich auf ihre Reinheit bezieht, auf ihre Unberührbarkeit, was so genannte "Sünden" betrifft. Schwer vorstellbar für einen Normal-Sterblichen, aber die Bibel sagt: Maria ist eine Jungfrau, sie ist rein, sie tut keine Sünde; sie ist frei von Sünden. Diese Reinheit ist für mich wie ein Schutzmantel; so können Maria Anfechtungen nicht wirklich verletzen. Insofern ist sie jungfräulich und deshalb spricht die Bibel von einer Jungfrauengeburt, einer Geburt in Reinheit, in Liebe, in reiner körperlicher und seelischer Liebe auch zu Joseph.
Ich persönlich mag auch das Wort "Sünder" und "Sünden" nicht. Das griechische Wort, das Luther mit Sünden übersetzt, hamartía, bedeutet eigentlich schlicht und einfach Fehler. Nicht von ungefähr lässt Goethe den Herrn, also Gott, in seinem
Faust sagen:"Es irrt der Mensch so lang er strebt ..."
Hänsel und Gretel ver-irren sich im Wald. Luther müsste das als Sünde bezeichnen.
Das liegt wie ein Alp auf der menschlichen Seele.
Nein, wir machen Fehler, wir irren. Und es ist wichtig, dass wir um Verzeihung bitten und uns selbst verzeihen.
Bei allem hilft ein Gebet, ein Gebet unseres inneren Kindes, ein Gebet unseres inneren Erwachsenen. Goldig, wenn zwei, wie der große und der kleine John, gemeinsam knien und beten.
Vielleicht gilt auch für die beiden schon die Aussage Jesu im Matthäusevangelium: "Amen, ich sage euch, wo zwei eins werden, worum sie bitten, das soll ihnen zuteil werden von meinem Vater im Himmel."
Du und Dein inneres Kind, ich und mein inneres Kind: ein heiliges Tandem :-))