Ich befolgte den Rat von Patricia Garfield und versuchte, meine Träume aufzuschreiben, gleich nachts. Doch ich scheiterte kläglich. Mit dem Schreiben im Bett, das ging überhaupt nicht. Deshalb zwang ich mich aufzustehen, wenn ich mit einem Traum aufwachte, und in die Küche zu gehen; dort sprach ich den Traum auf ein Diktiergerät; tagsüber schrieb ich den oder die Träume dann "ins Reine".
Mit zunehmender Übung - manchmal zu meinem Leidwesen, weil ich unbedingt möglichst schnell wieder ins Bett wollte - war es so, dass sich während des Sprechens ein Traum wie ein Teppich ausrollte. Fröstelnd saß ich da und dachte, das darf doch nicht wahr sein, doch der Traum wurde lang und länger - während ich sprach, tauchten neue und neue Bilder auf ...
Kaum glaublich mag dem ein oder anderen, der diese Erfahrung nicht gemacht hat, erscheinen, dass ich mit der Zeit erkannte, dass ich zwei Träume auf einmal träumte, ja, dass ein Traum den anderen querte.
Jahre später wusste ich, dass ich sogar meine Zukunft vorausgeträumt hatte. Ich hatte damals einen Traum geträumt, den ich unbedingt Ereignissen, die schon geschehen waren, zuordnen wollte, weil er unangenehmer war, als die eigentliche Handlung vermuten lassen konnte, aber es gelang mir nicht so recht; alle realen oder seelischen Zuordnungen waren irgendwie verzwungen. Im Traum war ich mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, einen Berg hochgefahren und fast gestürzt, als ich Personen, die dort liefen, überholte. Als diese Personen später in mein Leben traten, die bis hin zur typischen Farbe ihrer Kleidung und ihres Alters denen im Traum glichen, wusste ich, dass mein Traum mich in die Zukunft hatte blicken lassen zu einem Zeitpunkt, wo ich die Personen noch nicht kannte.
Ja, es war so, dass, wenn ich einen Traum tagsüber nicht aufschrieb, weil ich z.B. von einem Polizisten erschossen worden war, mitten in Stuttgart - etwas, was mir gar nicht gut getan hatte :-) - mein Traumbewusstsein in den Folgenächten keinen Traum mehr frei gab, ich also zwar natürlich träumte, aber nie mit einem Traum aufwachte, bis ich den unangenehmen Traum aufschrieb; dann erst wachte ich wieder mit Träumen auf.
Manchmal geschah es nachts mehrfach.
Es war eine verrückte Zeit und mein Traumtagebuch hab ich bis heute aufbewahrt, denn es waren auch Träume darin voll verrückter Schönheit. Einmal, das weiß ich, war ich im Paradies, eine weiße weise Gestalt bestimmte meine Bewegungen und ich hörte Musik, ich hörte ein Zauberwort ...
Der Traum, von dem ich erzählen möchte, spielte in der Schulturnhalle meiner damaligen Schule. Er war sehr plastisch. Alle Mauern und Fenster und Sportgeräte kannte ich aus der täglichen Arbeit. Im Traum übte ich mit einer Hälfte der Klasse am Boden Rollen und dergleichen, die andere sprang über Kästen Hocke und Grätsche.
Kurze Zeit später standen dann eine Mutter und der Direktor in der Turnhalle.
Ich hatte Kinder geschlagen.
Ich kann mich nur noch an Ohrfeigen erinnern. Es waren keine schlimmen Schläge und im Traum waren mir diese Handlungen als Vorgänge kaum bewusst.
Fakt war nur, dass jene Mutter und der Schulleiter dastanden und Letzterer die Mutter beruhigte, indem er sagte: "Der ist normal nicht so."
Und die Mutter war auch sehr unaufgeregt. Sie war nicht böse. Im Traum hatte sie Verständnis für mich. Ganz anders als die Mutter meiner Kindheit. Die ganze Handlung hatte auch keine schmerzlichen Folgen, weder bei den Kindern noch bei mir.
Und dennoch war ich durch den Traum ziemlich zerzaust. Mir war schon klar, dass er mir Elementares sagen wollte, denn Fakt ist: Ein Lehrer hat Schüler nicht zu schlagen und ein Lehrer tut das auch normalerweise nicht.
Warum also hatte ich es getan, der eigentlich ohnehin zu den meisten Schülern ein recht gutes oder gutes Verhältnis hatte?!
Irgendwann wurde mir bewusst, dass die Schüler etwas in mir verkörpern, das heranwachsen will, etwas Werdendes, und ich verstand den Traum so, dass er mir sagen wollte:
Geh doch nicht so ruppig und böse mit dem in Dir um, was in Dir werden und wachsen will!
Heute weiß ich, dass diese Kinder in der Schulturnhalle in Zusammenhang stehen mit den vielen durch meine Erziehung verletzten inneren Kinder.
In der christlich-lieblosen Erziehung meiner Eltern wurde in vielen Alterstufen vieles von mir beschnitten, zurückgewiesen, zurückgeschlagen oder diskriminiert. Mit der Zeit waren die vielen äußeren Schläge meiner Mutter weniger schlimm als die inneren. Mit zunehmendem Alter war ich zu Hause so geblockt, dass ich dort auch nicht mehr lernen konnte. Ich lebte vor allem für den Zeitpunkt, wo ich abhauen konnte zum Fußballspielen oder, als ich älter war, zum Tischtennisspielen abends in den Verein.
Ich weiß nicht, wie vielen Kindern, mit denen ich heute in der Schule zu tun habe, es auch so geht wie mir damals; hoffentlich nicht zu vielen. Aber bei manchen erahne ich es. Manchen spüre ich diesselbe Tendenz an wie sie bei mir da war: Nichts wie weg vom Schreibtisch. Lernen geht im Grunde nur, wenn ein bisschen Freude dabei ist. Bei mir war sie nicht.
Im Traum gehe ich mit den Kindern so um, wie mit mir umgegangen wurde. Und bekanntlich spaltet sich bei Verletzungen immer ein Teil des inneren Kindes ab und verkrümmelt sich in eine Ecke, legt sich auf die Couch, will nicht mehr aufstehen oder vom Spielen nicht mehr heimkommen. Was soll ein Kind in solch einem Zuhause ...
Erwachsene mit diesen Kindheitserfahrungen gehen mit ihren inneren Kindern genau so um, bis es ihnen gelingt, deren und damit ihren ureigenen Schmerz wahrzunehmen. Oft aber ist es zugleich so, dass sie allem Neuen, Kindlich-Werdenden genauso gegenüberstehen, ja oft gar nicht wahrnehmen, dass da etwas werden will.
Menschen, die in ihrer Kindheit das erlebt haben, was ich erlebt habe, gehen als Erwachsene oft in das Mutter- und/oder Vater-Ich, das ihnen begegnet war; sie tun das, um den Schmerz der Kindheit nicht erleben zu müssen.
Wenn solch ein Erwachsener Kindern begegnet, die alles das dürfen, was er nicht durfte ... wie reagiert er dann?
Schlimmstenfalls wird er zum Herodes.
Wobei wir heute, am 25. Dezember, mitten in der Weihnachtsgeschichte wären.
Da bleibt nichts als die Flucht nach Ägypten.
Manche, ich fürchte: viel zu viele Kinder müssen dorthin ohne Maria und Josef fliehen!
2 Kommentare:
... interessant - ich bin mit zwanzig tatsächlich nach Ägypten gegangen, geflohen vor einem in seinen Anforderungen so widersprüchlichen Leben, das ich auf dem Weg war, Alkoholikerin zu werden. Da Ägypten ein islamisches Land ist und Alkohol nicht so einfach verfügbar wie bei uns, entkam ich dieser Gefahr - und hab auch sonst von Ägypten viel bekommen.
In Ägypten warst Du sicherlich seelisch gut aufgehoben. Und Jesu Weg nach Ägypten war nicht nur eine Flucht, sondern auch einer der seelischen Einweihung. Für Dich war es ja dann auch mehr als eine Flucht ... manches ist ja wertvoller, als wir es bewusst wahrnehmen können ...
Papst und Co mögen das nicht so gern hören. Aber in der Pyramide von Gizeh spiegelt sich schon die Trinität. Und Isis und Osiris sind für mich auch Wurzeln des Christentums (ich spreche nicht von der Kirche).
Nach Ägypten würde ich auch gern mal :-). Von Tut ench Amun hab ich mal geträumt und der Nil ist für mich ein heiliger Fluss so wie der Ganges ...
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