Vor einigen Jahren musste ich eine Abiturprüfung miterleben, in welcher der Prüfungsvorsitzende, der in aller Regel von einer anderen Schule kommt, ziemlich häufig - bis zu einem gewissen Grad ist ihm das erlaubt - in die Prüfung fragend eingriff. Die meisten tun das sehr sensibel und erst gegen Ende der Prüfung, um das Gespräch zwischen dem Lehrer, den der Prüfling kennt, sich entwickeln zu lassen. Dieser aber tat das schon nach kurzer Zeit und brachte dadurch den jungen Mann, der da geprüft wurde, ziemlich aus dem Konzept.
Nach der Prüfung kam der Abiturient zu mir und bedauerte, dass er nicht habe besser sein können.
Für mich war diese Aussage schlimmer als der Prüfungsverlauf selbst, die Tatsache nämlich, dass der junge Mann das unsensible und unangemessene Prüfungsverhalten des Vorsitzenden im Grunde sich zur Last legte. Dabei ging der ungünstige Verlauf für mich klar zu Lasten des Vorsitzenden; der Junge musste von vornherein kämpfen und kam nie zum freien, vertrauensvollen Sprechen. Soweit mir das möglich war, habe ich ihm Hinweise gegeben, damit er seine Leistung richtig einschätzen konnte.
Dieses Geschehen steht beispielhaft für unsensibles und seelisch belastendes Verhalten von Erwachsenen in seinen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. Letztere können aufgrund ihrer fehlenden Lebenserfahrung das Verhalten der Erwachsenen zumeist nicht einschätzen. Zudem will ihre Seele vor allem in jungen Jahren den inneren Erwachsenen in sich ausbilden und die nächsten Anverwandten sind Vorbild und oft absoluter Maßstab.
Kafkas Kurzgeschichte Heimkehr zeigt beispielhaft auf, welche Auswirkungen solches Erwachsenenverhalten hat und wie fatal die Folgen sind. Hier zunächst die Kurzgeschichte selbst:
Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.
Als brutal empfinde ich die innere Wirklichkeit des Sohnes, wie sie sich ausgebildet hat. In seinem Verhalten spiegelt sich die Distanz des Vaters zu ihm. Er, der Sohn, verhält sich nun genauso. Er traut sich nicht heran, wagt nicht zu klopfen, mehrfach taucht das von der Ferne auf.
Das ist schon schlimm genug.
Das Schlimmste aber kommt zum Schluss:
Sein Inneres nimmt wahr, dass die in der Küche Sitzenden, vermutlich seine Eltern, ein Geheimnis haben, ein Geheimnis vor ihm haben, das sie wahren wollen.
Was er als Geheimnis wertet, ist die Kälte seiner Eltern, die ihn nicht an sie herankommen lässt.
Nun aber finden wir, was in vergleichbarer Weise auch in meinem einleitend geschilderten Erlebnis zum Ausdruck kommt:
Auf einmal übernimmt der Sohn und redet von seinem eigenen Geheimnis.
Und mit welcher Selbstverständlichkeit er das tut!
Wie er auf einmal sich das Verhalten der Eltern zu eigen macht ... dass er sich womöglich genauso verhalten könnte mit seinem Geheimnis, das eben das vermachte Geheimnis der Eltern ist.
Gewiss gibt es da einen Konjunktiv II, das wäre - aber jeder spürt, er, der Konjunktiv II transportiert hier keine Nicht-Wirklichkeit, sondern ziemlich sicher eine zukünftige Realität des Sohnes.
Eine Schuld der Eltern, von der ich in der Überschrift gesprochen habe, ist es nur, wenn sie ein Bewusstsein ihres Verhaltens haben und es dennoch weitergeben. Ansonsten ist es ihr Erbe.
Das seelische ist ja viel lebensbestimmender als das materielle.
Kein Kind, das vertrauensvoll sich seinen Eltern und dem Leben anvertrauen konnte, hat ein Geheimnis vor ihnen. Gewiss muss auch ein erwachsen werdendes Kind seinen Eltern nicht alles gesagt haben, schließlich wird es erwachsen und entscheidet selbst, was es sagt und was nicht. Zudem gibt es schließlich oft einen Lebenspartner, dem man alles anvertraut ... wenn es gut geht.
Nur hier ist offensichtlich: Dieser Sohn hat ein Geheimnis, das dem der Eltern korrespondiert. Nie steht für ihn zur Debatte, ob er es wirklich hat. Er hat es, weil seine Eltern ihm ihr Geheimnis ständig vorleben, jene Kälte, hinter der keine Wärme kommt, jene Kälte, die man besser nicht durchbricht, weil dort nichts ist, sich auch im Leben der Eltern nicht bilden konnte; schließlich sind auch sie nur ein Opfer ihrer Eltern, wie diese selbst ...
Das ist das Traumatische, dass Kinder etwas übernehmen, für das sie nicht verantwortlich sind.
Irgendjemand muss es ihnen sagen oder: Mögen sie es selbst erkennen.
Heute besteht dazu eher die Möglichkeit als früher.
Kafka allerdings ist an Elternkälte recht früh gestorben.
Immer wieder ziehen in Märchen die Helden aus, um z.B. den Vater, den inneren Vater zu heilen, denken wir an das Märchen vom Wasser des Lebens. Nicht immer gelingt das aufs Erste. Tröstlich aber, dass uns die Märchen sagen: Auf Dauer wird alles gut.
Immer wieder ziehen in Märchen die Helden aus, um z.B. den Vater, den inneren Vater zu heilen, denken wir an das Märchen vom Wasser des Lebens. Nicht immer gelingt das aufs Erste. Tröstlich aber, dass uns die Märchen sagen: Auf Dauer wird alles gut.
Einen weiteren Aspekt zu Kafkas Heimkehr: hier
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