"Von Geburt an hat der Mensch ein biologisches Bedürfnis nach Bindung. Bindung bedeutet ein lang anhaltendes emotionales Band zu ganz bestimmten Personen, die nicht beliebig austauschbar sind. Ihre Nähe und Unterstützung wird immer dann gesucht, wenn zum Beispiel Angst, Trauer oder Krankheit in einem Ausmaß erlebt werden, das nicht mehr selbstständig regulierbar ist. Geht die primäre Bezugsperson, traditionell die Mutter, feinfühlig und verlässlich mit den Wünschen des Kindes um, so wird es Urvertrauen entwickeln. Die ersten 18 Monate entscheiden, ob das Kind im späteren Leben Beziehungsfähigkeit erlangt und seine Affekte angemessen regulieren kann.
Die Präferenz für das Gesicht der Mutter, das Antwortlächeln im dritten Monat und das Fremdeln im achten Monat sind wichtige Hinweise dafür, dass die Unterscheidungsfähigkeit schon gut entwickelt und das Bild der Mutter verinnerlicht ist. Die Exploration, das heißt das Erkundungsverhalten des Kleinkindes, erfolgt nur bei Anwesenheit der bekannten Bezugsperson, die als sichere Anlaufstation dient. Die ungestörte Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren basiert auf feiner Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse, intuitiver elterlicher Empathie und Affektresonanz. Zwischen 1945 und 1960 untersuchten John Bowlby und René Spitz systematisch Waisenheimkinder, die durch Trennung von der Mutter Entwicklungsschäden aufwiesen. Diese waren jedoch nicht nur Folge des Verlustes per se, sondern in hohem Maße abhängig von der Qualität des Ersatzmilieus, das im Heim denkbar ungünstig imponierte. Kinder depressiver Mütter weisen ähnliche Entwicklungsdefizite auf wie Heimkinder, da diese Mütter emotional nicht auf die Signale des Kindes respondieren, eine starre Mimik zeigen oder das Baby nicht ausreichend stimulieren.
Anhaltende Beziehungstraumen können durch emotionale Vernachlässigung bei Ablehnung des Kindes oder die Zufügung von Gewalt durch die Bezugsperson entstehen. Singuläre traumatische Erlebnisse werden wahrscheinlich besser kompensiert als Störungsmuster, die aus täglich wiederholten Erfahrungen resultieren. Als gesicherte kindliche Risikofaktoren gelten heute: niedriger Sozialstatus der Elternfamilie, chronische Disharmonie der Eltern, verminderte Verfügbarkeit der Bindungspersonen und Gewalt. Protektiv wirken eine psychisch gesunde Mutter, ein gutes Ersatzmilieu nach Mutterverlust, soziale Kontakte, mindestens durchschnittliche Intelligenz und aktives Temperament des Kindes."
Wissen sollte man, dass Gene, die das Verhalten von Menschen beeinflussen, durch Einfluss von außen abgeschaltet werden können - einen Vorgang, den man Methylierung nennt.
Dieses Geschehen kann sich sogar auf die folgende Generation weitervererben:
"Bei Mangel kann auch der Nachwuchs der nächsten Generation kein liebevolles Verhalten aufbringen. Soziale Vernachlässigung führt auf diese Weise also zu neurobiologischen Veränderungen, die sogar vererbbar sind."
Mehr dazu in dem interessanten und informativen Artikel von Dr. Antje Oppermann.
Erfreulich übrigens, dass solches Geschehen reversibel ist, wenn die Bedingungen im Außen sich ändern.
Ich glaube, wenn jemand seine Erziehung- und Familienbedingungen erkennt, kann sicherlich ein verändertes Bewusstsein und ein veränderter Umgang mit sich selbst solche Prozesse in Gang setzen, die ja immer auch einem biochemischen Vorgang in uns entsprechen.
Frau Oppermann schreibt in diesem Zusammenhang noch:
Unzählige Forschungsergebnisse und Beobachtungen aus dem medizinischen Bereich liegen inzwischen darüber vor, dass emotionaler Stress oder Mangel an Zuwendung – vermittelt durch Serotonin und Cortisol – krankheitsauslösend ist. Dies gilt gleichermaßen für Ratten und Rhesusaffen wie für den Menschen:
Eine der bekannten Nebenwirkungen des Cortisols, die Schwächung des Immunsystems führt zu häufigen und schwer behandelbaren Infekte bei Kleinkindern in Dauerstress-Situationen. Schon bei einjährigen Kindern ist daher der Einsatz von Antibiotika gelegentlich unumgänglich – trotz des bekannten Risikos, die Entwicklung des noch unreifen Immunsystems zu beeinträchtigen ...
Im Falle einer Daueraktivierung des Stress-Systems – vor allem bei Kindern unter zwei Jahren – kann es zu einer sogenannten Erschöpfungsreaktion kommen. Darunter versteht man stark abgeflachte Cortisol-Tagesprofile, wie sie von rumänischen Waisenkindern bekannt sind.
Wie gut, dass die Wissenschaft sich diesem medizinischen und sozialen Geschehen mittlerweile so intensiv zuwendet; das macht Hoffnung, dass die politischen Entscheidungsträger lernen, wieder mehr mit Kinderaugen zu sehen; vielleicht erkennen sie dann, dass Leid sich erst viel später outet; dann werden die frühes Leid Tragenden oft noch einmal betraft. - Verständlich, dass deren Seele das nicht einsehen kann und sie - oft aus dem Unbewussten heraus - entsprechend reagieren.
Mehr und mehr Menschen könnten jedenfalls erkennen, dass Geld allein nicht glücklich macht, was allerdings nicht rechtfertigt, dass in unserer Gesellschaft so viele Menschen am Armutslimit leben.
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