In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?

Samstag, 10. Dezember 2011

Gierige Kinder. – Die Bedeutung der Vermittlung einer inneren Struktur, eines inneren Erwachsenen in der Erziehung.

Folgende Situation ist mir unvergessen:
In einer Sportstunde hole ich eine Packung der kleinen Dickmanns aus meiner Sporttasche; jeder der Klasse bekommt einen Mohrenkopf. Die Jungen im Alter von 10, 11 Jahren stehen sofort vor mir, die in der ersten Reihe sind natürlich im Vorteil. Es sind zwar offensichtlich genug Mohrenköpfe da, aber ziemlich viele sind offensichtlich auf die kleinen weißen scharf.
Kaum habe ich die Packung aufgemacht und halte sie vor mir, da schießt die Hand eines Jungen aus der dritten Reihe über alle Schultern weg in die Schachtel und krallt sich einen Mohrenkopf. Dabei wollte er nicht einmal einen weißen, nur einen, seinen. Die Hand kam so blitzschnell und war sofort in der Schachtel, dass ich mich wundere, so schnell reagiert haben zu können. Sehr laut und deutlich sagte ich: Nimm sofort die Hand raus!"
Verständlich, das Verhalten des Jungen? Immerhin stand er in der dritten Reihe, bis er drankam, konnte viel passieren ...
Ja und nein.
Eine weitere Situation, die mir genauso unvergesslich ist:
Ich sitze mit einem befreundeten Ehepaar im Garten und habe eine Runde Pizza ausgegeben als Dank für eine Hilfe, die ich von ihnen erfahren hatte. Die Riesenpizza liegt auf dem Tisch, viele Stücke, bereits geschnitten, so waren sie vom Pizza-Service gebracht worden.
Da kommt der Sohnemann herbei, setzt sich mit seinen 14 Jahren zu uns und schlingt in einem Tempo Stück für Stück hinunter, dass mir am Schluss gerade noch ein  zweites blieb. Normalerweise hätten alle von uns 4 oder 5 haben können. Auch die Eltern bekamen nicht viel mehr. Der Sohn schlang und schlang.
Mir stieg die Galle höher und höher, nicht nur, dass das Schlingen unappetitlich war und die ganze Essatmosphäre störte; es war einfach rüpelhaft und rücksichtslos-unhöflich, wie er sich benahm.
Da die Pizza von mir quasi ein Geschenk war, wollte ich nichts sagen und ich sagte auch deshalb nichts, weil ich erwartete, dass die Eltern eingriffen; aber das taten sie nicht. Im Gegenteil, eher hatte ich noch den Eindruck, dass die Mutter stolz war, wie ihr Sohn schlingen konnte. Ich bin mir allerdings auch ziemlich sicher, dass mir auch der Mut, etwas zu sagen, fehlte, denn ich hätte mit einer Zurechtweisung des Jungen in gewisser Weise auch die Eltern düpiert, schließlich waren sie für das Verhalten ihres Kindes verantwortlich.
Ich hoffe, heute würde ich es in einer vergleichbaren Situation dennoch tun.

Das Problem liegt nur vordergründig auf Seiten der Kinder bzw. Jugendlichen; vielmehr liegt ein Problem in der Erziehung und vielleicht auch in der Familienaufstellung vor.
Von dem Jungen aus dem Unterricht weiß ich, dass er ältere Geschwister hat. Wenn in einer Familie nicht darauf geachtet wird, dass ein Jüngeres nicht ständig um seine Position kämpfen muss; wenn nicht darauf geachtet wird, dass Mädchen nicht zugunsten von Jungen benachteiligt werden - übrigens können auch jüngere sich rigoros gegenüber älteren Geschwistern durchsetzen (auch da müssten Eltern moderieren), dann ist so ein Tun, wie es der Junge mit seinem Mohrenkopfverhalten gezeigt hat, verständlich. Struggle for life.
Schlimm, wenn solches Verhalten am Familientisch nicht balanciert wird.
Meine Anweisung an den Jungen halte ich, obwohl er ursächlich ziemlich sicher nicht dafür verantwortlich zu machen ist, für richtig; er muss lernen, sich an Regeln zu halten. Wenn das Schicksal ihn in dieser Situation in die dritte Reihe stellt, ist das in Ordnung. – Geholfen ist ihm damit allerdings nur sehr oberflächlich; in Wirklichkeit und ursächlich nicht.

In gewisser Weise ist es normal, dass Kinder sich so verhalten wie der Junge mit seinen Pizzastücken, vor allem wenn sie 3, 4 oder meinetwegen auch 5, 6, 7 Jahre alt sind; dann probieren sie einfach aus und testen je nach Temperament und Charakter, wie weit sie gehen können.
Es ist dann Sache der Erwachsenen, eine Struktur einzubringen, einen notwendigen Rahmen  zu setzen. Im Alter des Jungen, das heißt mit 14 Jahren, ist schon deutlich etwas schief gelaufen; bei dem zweiten und dritten hat er noch gefragt, ob er noch eines haben könne; in der Folge langte er  dann einfach zu.
Das Verhalten der Kinder an sich ist nicht das Schlimme an der Sache, schlimm sind die schwachen Erwachsenen, denen die innere Kraft fehlt, Kindern Struktur zu geben. Und selbst sie sind in gewisser Weise auch nicht die Quelle, denn sie haben diese Struktur auch nicht gelernt.
Es gibt Kinder in der Schule, die am Anfang, wenn man sie als Lehrer bekommt, rigoros einen mitten im Satz unterbrechen - mit der größten Selbstverständlichkeit; das kann ein oder zweimal passieren; sie aber machen das, wann sie wollen.
Einem Erwachsenen möchte man dringend empfehlen, ein Kind ausreden zu lassen; aber genauso muss ein Erwachsener dafür Sorge tragen, dass ein Kind einen Erwachsenen respektiert.
Es gibt in unserer Kultur eine mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufene Art von Kinderfreundlichkeit.
Ich erinnere mich an einen Schulleiter zu Beginn meiner Zeit als Lehrer:
Man stand im Rektorat und unterhielt sich mit ihm. Da öffnete sich die Tür und ein Schüler trat herein. Sofort war man - und nicht nur ich, so erging es auch den anderen Kollegen - außen  vor; abrupt wendete sich der Schulleiter dem oder den Schülern zu, demonstrierte vor allen im Raum anwesenden Erwachsenen Kinderfreundlichkeit, und erst wenn diese versorgt und betüttelt waren, wandte er sich wieder den Erwachsenen zu.
Das mag in dem ein  oder anderen Fall gewiss angemessen sein, z.B. wenn ein Kind weinend den Raum betritt; ansonsten aber ist solches Verhalten von Seiten der Erwachsenen katastrophal; wobei noch am wenigsten schlimm ist, dass diese Erwachsenen demonstrieren, dass ihr innerer Erwachsener krank ist; schlimmer ist, dass sie diesen Infekt weitergeben.
An die Kinder.

Gierige Erwachsene gibt es zuhauf, möchte ich sagen. Plötzlich fährt in ihnen das innere Kind aus seiner Nische, in der es sich versteckt hat, sein Arm fährt raus und krallt sich, was es meint, haben zu müssen ... wer möchte schon ein Leben lang zu kurz gekommen sein ... Erwachsene können Gefühl und Verhalten halt besser kaschieren ...