In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?

Donnerstag, 1. Mai 2008

Chopich / Paul: Der lieblose Erwachsene

Kapitel 2
Sie sind ein Erwachsener, ein Elternteil

So, wie wir als Kinder behandelt werden,
behandeln wir uns während unseres ganzen restlichen Lebens.
Alice Miller Am Anfang war Erziehung
Der erwachsene Teil in uns kommt nicht plötzlich zur Welt, sobald wir achtzehn werden. Von unserer Geburt an entwickeln wir sowohl den Persönlichkeitsanteil des Kindes als auch den des Erwachsenen in uns.
Was ist ein Erwachsener?
Der Erwachsene ist der logische, der denkende Teil in uns. Die Gefühle des Erwachsenen sind das Ergebnis seines Denkens. Beim Kind dagegen entspringen die Gedanken seinen Gefühlen. Der Erwachsene ist eher am Tun als am Sein interessiert, eher am Handeln als am Erleben. [...]DAS STIMMT SO NICHT: Wir können uns den Erwach­senen als das Yang, das Männliche oder den Aspekt der linken Gehirnhälfte vorstellen und das Kind als das Yin, das Weibliche oder den Aspekt der rechten Gehirnhälfte. Wir können den Erwachsenen mit dem bewußten Verstand, dem linear denken­den Intellekt gleichsetzen.
Der Erwachsene ist die Entscheidungsinstanz im Hinblick auf unsere Absichten und Handlungen. Es ist immer der Erwachsene, der darüber entscheidet, ob wir uns schützen wollen oder ob wir lernen wollen, und der die entsprechenden Aktionen auswählt, die der Reali­sierung unserer Absicht dienen. Der Erwachsene muss die Aufgabe des liebevollen Bemutterns übernehmen - die alten Wunden heilen und die falschen Überzeugungen durch die Wahrheit ersetzen -, und er muss sich weigern, die negativen und selbstzerstörerischen Verhaltensmuster des verlassenen Kindes zu tolerieren. Das innere Kind wird erst dann neugierig werden und sich für das Lernen öffnen, wenn der Erwachsene be­schlossen hat zu lernen und das Kind geduldig und unbeirrbar zu lieben.
Unser innerer Erwachsener kann ein liebevoller oder ein liebloser Erwachsener sein - mit anderen Worten, ein Erwach­sener, der beschlossen hat zu lernen, oder ein Erwachsener, der sich entschieden hat, sich zu schützen. [...]
Bevor wir darauf jedoch näher eingehen, ist es wichtig zu definieren, was liebevolles Verhalten ist: Wir sind liebevoll, wenn wir unser eigenes emotionales und spirituelles Wachstum und das anderer Menschen fördern und unterstützen wollen und wenn wir persönliche Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen - das heißt, wenn wir nicht als Opfer handeln und nicht andere für unsere Handlungen und Reaktio­nen und das sich daraus ergebende Glück oder Unglück verant­wortlich machen. Darüber hinaus bedeutet liebevolles Verhal­ten, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, und es bedeutet, sich selbst und andere nicht zu beschuldigen oder herunterzuma­chen. Liebevolles Verhalten ist Ausdruck der inneren Harmo­nie Ihrer Persönlichkeit und stärkt so Ihre Selbstachtung und das Gefühl der Integrität. Liebevolles Verhalten Ihrem inneren Kind gegenüber heißt, dass Sie die Verantwortung für Ihre Gefühle übernehmen, indem Sie zusammen mit Ihrem Kind die falschen Glaubensmuster kennen lernen, die Ihren Schmerz verursachen. Es bedeutet, dass Sie sich einen liebevollen und unterstützenden Bereich schaffen, in dem Sie alte Wut und alten Schmerz durchleben können, und dass Sie entdecken, was Ihnen Freude macht, und Ihre Handlungen auf diese Freude hin ausrichten.
Der lieblose Erwachsene
Lieblos ist der Erwachsene, der die Wahl getroffen hat, sich gegen die Wahrnehmung und das Durchleben von Schmerz, Angst, Traurigkeit, Unbehagen und des intensiven Gefühls des Alleinseins und der Einsamkeit seines inneren Kindes zu schüt­zen, und der sich weigert, dafür die Verantwortung zu überneh­men. Der lieblose Erwachsene hat sich zudem entschieden, keine Verantwortung für die Freude des Kindes zu überneh­men. Er misst Aufgaben, Regeln, Verpflichtungen und Scham- und Schuldgefühlen einen größeren Wert bei als dem Gefühl, in Kontakt mit sich selbst zu sein. Der lieblose Erwachsene spaltet so das innere Kind ab und lässt es durch seine Entschei­dung, ein autoritärer oder gleichgültiger Elternteil zu sein, im Stich. Wenn der lieblose Erwachsene autoritär ist, dann ist er kritisch, verurteilend, herabsetzend und/oder kontrollierend. Der lieblose Erwachsene ist die innere Stimme, die das Kind belügt, ihm sagt, dass es schlecht, falsch, unzulänglich, dumm, selbstsüchtig oder unwichtig sei, und der die Gefühle des Kin­des für unwichtig erklärt. Er versucht, das Kind zu kontrollie­ren, indem er ihm sagt, was es tun sollte oder nicht tun sollte, und ihm all die schlimmen Dinge vorhält, die passieren kön­nen, wenn es etwas »nicht richtig« macht. Der lieblose Er­wachsene sagt dem Kind, dass es nur dann liebevoll sei, wenn es sich selbst aufopfere, und dass es selbstsüchtig sei, sich selbst glücklich zu machen. [...] In Wirklichkeit jedoch ist es selbstsüch­tig, zu erwarten, daß andere die Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen. Der lieblose Erwachsene trifft einseitige Entscheidungen und mißachtet die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes. Der lieblose Erwachsene ignoriert und verleugnet die Stimme des inneren Kindes und schafft so genau dieselben Schwierigkeiten, die Eltern haben, wenn sie nicht auf ihre Kinder hören. Die Hauptabsicht des lieblosen autoritären Erwachsenen besteht darin, das innere Kind zu kontrollieren. [...]Der lieblose Erwachsene, der verschiedene Gebote der El­tern und der Gesellschaft verinnerlicht hat, zwingt dem inne­ren Kind diese Regeln auf. Melody Beattie nennt in ihrem Buch Unabhängig sein eine Reihe von Glaubensmustern, die die mei­sten von uns verinnerlicht haben:
• Spüre deine Gefühle nicht, und sprich nicht über sie.
• Denke nicht, suche nicht nach Lösungen und triff keine Entscheidungen - du weißt möglicherweise nicht, was du willst oder was das Beste für dich ist.
• Nimm Probleme nicht wahr, erwähne sie nicht und löse sie nicht - es ist nicht gut, welche zu haben.
• Sei gut, anständig, perfekt und stark.
• Sei nicht, wer du bist, denn das ist nicht gut genug.
• Sei nicht egoistisch, stelle dich nicht an die erste Stelle, sage nicht, was du willst oder brauchst, sage nicht nein, setze keine Grenzen, und sorge nicht für dich - sorge immer für andere. Verletze ihre Gefühle nicht, und mache sie nicht wütend.
• Sei nicht lustig oder albern, und genieße dein Leben nicht - es kostet Geld, macht Lärm und ist nicht nötig.
• Vertraue nicht dir selbst, deinem höheren Selbst, dem Prozeß des Lebens oder bestimmten Menschen - setze statt dessen Vertrauen in betrügerische Menschen; reagiere dann überrascht, wenn sie dich hereinlegen.
• Sei nicht offen, ehrlich oder direkt - sprich in Andeutungen, manipuliere, bringe andere dazu, für dich zu sprechen. Er­rate, was sie wollen und brauchen, und erwarte von ihnen, dass sie dasselbe für dich tun.
• Komme niemandem nahe - du machst dich dadurch verletz­bar.
• Störe das bestehende System nicht, indem du wächst oder dich veränderst.
• Mache immer ein fröhliches Gesicht, egal wie du dich fühlst oder was du zu tun hast
Unser liebloser Erwachsener zwingt diese Regeln und falschen Überzeugungen unserem inneren Kind fortwährend auf und setzt somit die Lieblosigkeit, die wir in der Kindheit erfahren haben, permanent fort.
Wenn der lieblose Erwachsene gleichgültig ist, dann ist er vielleicht völlig abwesend und lässt das Kind mit allem allein fertig werden. Oder er erlaubt dem Kind, selbstzerstörerisch zu sein, sich selbst physisch und/oder emotional durch Sucht und Abhängigkeit zu missbrauchen und zu verletzen. Der gleichgül­tige innere Erwachsene wird es dem inneren Kind möglicher­weise erlauben, andere durch physische und/oder emotionale Gewalt - Schlagen, Verprügeln, Stehlen, Lügen, Beschuldigen oder sogar Vergewaltigen und Töten - zu zerstören. Der gleichgültige lieblose Erwachsene geht auf die Wünsche und Bedürfnisse des inneren Kindes nicht ein. Der lieblose Erwach­sene hat entschieden, die Verantwortung für die Bedürfnisse des inneren Kindes abzulehnen, so dass das Kind gezwungen ist, seine Bedürfnisse von anderen befriedigen zu lassen.
Sowohl der autoritäre als auch der gleichgültige innere Er­wachsene geben dem inneren Kind das Gefühl, ungeliebt und im Stich gelassen zu sein. Das Kind folgert daraus, dass es schlecht, falsch, nicht liebenswert, fehlerhaft, unwichtig, unbe­deutend und unzulänglich sei, und diese falschen Überzeugun­gen erzeugen Gefühle von Angst, Scham und Schuld.
Der lieblose Erwachsene ist im Allgemeinen ein Abbild der Lieblosigkeit unserer Eltern, Großeltern, Geschwister, Lehrer, geistlichen Führer oder anderer Rollenvorbilder und Autori­tätspersonen. Wir alle neigen dazu, auf dieselbe Art auf unser inneres Kind zu reagieren wie unsere Eltern oder Bezugsperso­nen, und somit erzeugen wir immerfort aufs Neue unseren Schmerz und das Gefühl des Getrenntseins. Wir können unser inneres Kind auf dieselbe Art kritisieren, anlügen, beschuldigen oder abwerten, wie wir selbst als Kind kritisiert, angelogen, beschuldigt und abgewertet worden sind, und wir benutzen dazu oft dieselben Worte, Sätze und Handlungen. Ihr liebloser Erwachsener verhält sich autoritär oder gleichgültig, je nach­dem wie Ihre Eltern oder andere nahe Bezugspersonen Sie und sich selbst behandelt haben.
Ihr innerer Dialog, der fortwährend im Unterbewusstsein abläuft, ähnelt wahrscheinlich den Worten, die Sie in Ihrer Kindheit von Ihren Vorbildern hörten. Unsere Eltern haben uns wahrscheinlich aus der Rolle ihres eigenen verlassenen Kindes und des eigenen lieblosen Erwachsenen heraus betreut, und dieses Verhalten prägte das Rollenvorbild für unseren eige­nen lieblosen Erwachsenen. [...]
Wenn Ihre Eltern in Ihrer Kindheit nicht liebevoll mit Ihnen umgegangen sind - was bei fast allen von uns in unterschiedli­chem Ausmaß der Fall war -, dann haben Sie vielleicht diesel­ben falschen Überzeugungen verinnerlicht, die das Wesen des verlassenen inneren Kindes Ihrer Eltern bestimmt haben. Im folgenden finden Sie einige der falschen Glaubensmuster, die Sie vielleicht verinnerlicht haben, als Sie dem Einfluss Ihrer Eltern ausgesetzt waren:
• Ich kann mich selbst nicht glücklich machen. Ich kann mich selbst nicht so glücklich machen, wie jemand anders oder etwas anderes es könnten. Ich kann nicht selbst für mich
sorgen.
• Ich kann mit Schmerz nicht umgehen, besonders mit dem Schmerz der Ablehnung und des Verlassenseins, dem Schmerz meines Alleinseins.
• Andere sind für meine Gefühle verantwortlich, und ich bin für ihre Gefühle verantwortlich.
• Ich kann kontrollieren, wie sich die anderen mir gegenüber fühlen und wie sie mich behandeln.
• Es ist unbedingt wichtig für meine Integrität, jeder Kon­trolle zu widerstehen.
• Mich selbst glücklich zu machen ist egoistisch und deshalb falsch.
• Der Kern meines Wesens ist schlecht, falsch, nicht liebens­wert oder sonstwie fehlerhaft.
Solange Sie aus diesen falschen Überzeugungen heraus han­deln, werden Sie es möglicherweise nicht schaffen, sich Ihrem inneren Kind gegenüber liebevoll zu verhalten. Sie werden keine Verantwortung für Ihre eigenen Gefühle übernehmen und sich nicht für das Lernen entscheiden [...]

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