In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?

Samstag, 10. Dezember 2011

Gierige Kinder. – Die Bedeutung der Vermittlung einer inneren Struktur, eines inneren Erwachsenen in der Erziehung.

Folgende Situation ist mir unvergessen:
In einer Sportstunde hole ich eine Packung der kleinen Dickmanns aus meiner Sporttasche; jeder der Klasse bekommt einen Mohrenkopf. Die Jungen im Alter von 10, 11 Jahren stehen sofort vor mir, die in der ersten Reihe sind natürlich im Vorteil. Es sind zwar offensichtlich genug Mohrenköpfe da, aber ziemlich viele sind offensichtlich auf die kleinen weißen scharf.
Kaum habe ich die Packung aufgemacht und halte sie vor mir, da schießt die Hand eines Jungen aus der dritten Reihe über alle Schultern weg in die Schachtel und krallt sich einen Mohrenkopf. Dabei wollte er nicht einmal einen weißen, nur einen, seinen. Die Hand kam so blitzschnell und war sofort in der Schachtel, dass ich mich wundere, so schnell reagiert haben zu können. Sehr laut und deutlich sagte ich: Nimm sofort die Hand raus!"
Verständlich, das Verhalten des Jungen? Immerhin stand er in der dritten Reihe, bis er drankam, konnte viel passieren ...
Ja und nein.
Eine weitere Situation, die mir genauso unvergesslich ist:
Ich sitze mit einem befreundeten Ehepaar im Garten und habe eine Runde Pizza ausgegeben als Dank für eine Hilfe, die ich von ihnen erfahren hatte. Die Riesenpizza liegt auf dem Tisch, viele Stücke, bereits geschnitten, so waren sie vom Pizza-Service gebracht worden.
Da kommt der Sohnemann herbei, setzt sich mit seinen 14 Jahren zu uns und schlingt in einem Tempo Stück für Stück hinunter, dass mir am Schluss gerade noch ein  zweites blieb. Normalerweise hätten alle von uns 4 oder 5 haben können. Auch die Eltern bekamen nicht viel mehr. Der Sohn schlang und schlang.
Mir stieg die Galle höher und höher, nicht nur, dass das Schlingen unappetitlich war und die ganze Essatmosphäre störte; es war einfach rüpelhaft und rücksichtslos-unhöflich, wie er sich benahm.
Da die Pizza von mir quasi ein Geschenk war, wollte ich nichts sagen und ich sagte auch deshalb nichts, weil ich erwartete, dass die Eltern eingriffen; aber das taten sie nicht. Im Gegenteil, eher hatte ich noch den Eindruck, dass die Mutter stolz war, wie ihr Sohn schlingen konnte. Ich bin mir allerdings auch ziemlich sicher, dass mir auch der Mut, etwas zu sagen, fehlte, denn ich hätte mit einer Zurechtweisung des Jungen in gewisser Weise auch die Eltern düpiert, schließlich waren sie für das Verhalten ihres Kindes verantwortlich.
Ich hoffe, heute würde ich es in einer vergleichbaren Situation dennoch tun.

Das Problem liegt nur vordergründig auf Seiten der Kinder bzw. Jugendlichen; vielmehr liegt ein Problem in der Erziehung und vielleicht auch in der Familienaufstellung vor.
Von dem Jungen aus dem Unterricht weiß ich, dass er ältere Geschwister hat. Wenn in einer Familie nicht darauf geachtet wird, dass ein Jüngeres nicht ständig um seine Position kämpfen muss; wenn nicht darauf geachtet wird, dass Mädchen nicht zugunsten von Jungen benachteiligt werden - übrigens können auch jüngere sich rigoros gegenüber älteren Geschwistern durchsetzen (auch da müssten Eltern moderieren), dann ist so ein Tun, wie es der Junge mit seinem Mohrenkopfverhalten gezeigt hat, verständlich. Struggle for life.
Schlimm, wenn solches Verhalten am Familientisch nicht balanciert wird.
Meine Anweisung an den Jungen halte ich, obwohl er ursächlich ziemlich sicher nicht dafür verantwortlich zu machen ist, für richtig; er muss lernen, sich an Regeln zu halten. Wenn das Schicksal ihn in dieser Situation in die dritte Reihe stellt, ist das in Ordnung. – Geholfen ist ihm damit allerdings nur sehr oberflächlich; in Wirklichkeit und ursächlich nicht.

In gewisser Weise ist es normal, dass Kinder sich so verhalten wie der Junge mit seinen Pizzastücken, vor allem wenn sie 3, 4 oder meinetwegen auch 5, 6, 7 Jahre alt sind; dann probieren sie einfach aus und testen je nach Temperament und Charakter, wie weit sie gehen können.
Es ist dann Sache der Erwachsenen, eine Struktur einzubringen, einen notwendigen Rahmen  zu setzen. Im Alter des Jungen, das heißt mit 14 Jahren, ist schon deutlich etwas schief gelaufen; bei dem zweiten und dritten hat er noch gefragt, ob er noch eines haben könne; in der Folge langte er  dann einfach zu.
Das Verhalten der Kinder an sich ist nicht das Schlimme an der Sache, schlimm sind die schwachen Erwachsenen, denen die innere Kraft fehlt, Kindern Struktur zu geben. Und selbst sie sind in gewisser Weise auch nicht die Quelle, denn sie haben diese Struktur auch nicht gelernt.
Es gibt Kinder in der Schule, die am Anfang, wenn man sie als Lehrer bekommt, rigoros einen mitten im Satz unterbrechen - mit der größten Selbstverständlichkeit; das kann ein oder zweimal passieren; sie aber machen das, wann sie wollen.
Einem Erwachsenen möchte man dringend empfehlen, ein Kind ausreden zu lassen; aber genauso muss ein Erwachsener dafür Sorge tragen, dass ein Kind einen Erwachsenen respektiert.
Es gibt in unserer Kultur eine mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufene Art von Kinderfreundlichkeit.
Ich erinnere mich an einen Schulleiter zu Beginn meiner Zeit als Lehrer:
Man stand im Rektorat und unterhielt sich mit ihm. Da öffnete sich die Tür und ein Schüler trat herein. Sofort war man - und nicht nur ich, so erging es auch den anderen Kollegen - außen  vor; abrupt wendete sich der Schulleiter dem oder den Schülern zu, demonstrierte vor allen im Raum anwesenden Erwachsenen Kinderfreundlichkeit, und erst wenn diese versorgt und betüttelt waren, wandte er sich wieder den Erwachsenen zu.
Das mag in dem ein  oder anderen Fall gewiss angemessen sein, z.B. wenn ein Kind weinend den Raum betritt; ansonsten aber ist solches Verhalten von Seiten der Erwachsenen katastrophal; wobei noch am wenigsten schlimm ist, dass diese Erwachsenen demonstrieren, dass ihr innerer Erwachsener krank ist; schlimmer ist, dass sie diesen Infekt weitergeben.
An die Kinder.

Gierige Erwachsene gibt es zuhauf, möchte ich sagen. Plötzlich fährt in ihnen das innere Kind aus seiner Nische, in der es sich versteckt hat, sein Arm fährt raus und krallt sich, was es meint, haben zu müssen ... wer möchte schon ein Leben lang zu kurz gekommen sein ... Erwachsene können Gefühl und Verhalten halt besser kaschieren ...

Sonntag, 30. Oktober 2011

Wir als liebevoller Bär, als weise Zauberin: Wie man sein kostbares inneres Kind wiedergewinnt!


Ich erinnere mich an eine Kollegin, die mir vor vielen Jahren erzählte, dass sie sich manchmal, wenn es ihr schlecht gehe, ins Bett legt, ihr kleines Bärli nimmt und sich daran kuschelt.
Heute verstehe ich, was sie gemacht hat, im Grunde das einzig Richtige: Mit ihrem Bärli hat sie ihr verletztes inneres Kind zu sich gezogen, es angenommen und als Erwachsener getröstet.
Bei ihr geschah das sicherlich fast automatisch, dass ihr Inneres wusste, dass das augenblickliche Trauma eine alte Verletzung ihrer Kindheit aktualisiert. Meistens sind ja Verletzungen Traumen aus unserer Vergangenheit, die genau diese Verletzung wieder bluten lassen, die einst blutete.
Und Verletzungen, die an Stellen stattfinden, die schon einmal offen waren, heilen schlechter, das wissen wir.
Im Grunde war sie ja selbst dieses verletzte innere Kind. Aber indem der Erwachsene dieses innere Kind als Bärli angenommen hat, hat sie ihm auf der unbewussten Ebene den Trost gegeben, den es brauchte - und damit sich selbst in dieser Situation.
Dann mag der Schlaf gekommen sein und die Zeit hatte Zeit, Wunden zu heilen.

Heilung geschieht nur, wenn wir Gefühle annehmen und möglichst herausfinden, was da aktualisiert wurde.

Gerade wenn wir es nicht wissen, ist die Möglichkeit, sich in Briefen mit dem kleinen ... oder der kleinen Anna, Lisa oder Charlotte auszutauschen, eine unglaublich gute Möglichkeit.
Der Erwachsene kann beginnen und den kleinen Johannes bitten, ihm zu erzählen, was los war.
Oder der oder die kleine ... fangen an zu schreiben, schreiben davon, dass sie so allein sind, niemand da ist, der ...

John Bradshaw schreibt dazu in seinem Buch Das Kind in uns für die Phase des Säuglingsalters (er geht ja in der Folge auch auf die anderen Kindheitsphasen ein):
Stellen Sie sich vor, Sie, der weise, freundliche, alte Zauberer, würden ein Kind adoptieren. Stellen Sie sich vor, das Kind, daß Sie adoptieren wollten, wären Sie selbst als Säugling. Stellen Sie sich weiter vor, Sie müßten diesem Säugling einen Brief schreiben. Säuglinge können natürlich noch nicht lesen, aber glauben Sie mir, es ist trotzdem wichtig, daß Sie diesen Brief schreiben. (Schreiben Sie ihn nicht, wenn Sie das kostbare innere Kind in sich nicht wirklich zurückgewinnen wollen. Ich gehe allerdings davon aus, daß sie das wollen, denn sonst hätten Sie dieses Buch nicht gekauft.) Der Brief braucht nicht lang zu sein, ein paar Sätze genügen. Teilen Sie dem wunderbaren Kind in ihrem Inneren mit, daß Sie es lieben und daß Sie so froh sind, daß es ein Junge beziehungsweise ein Mädchen ist ... Wenn Sie den Brief geschrieben haben, lesen Sie ihn sich langsam ganz laut vor, und achten Sie dabei darauf, was Sie dabei empfinden. Es ist nicht schlimm, wenn Sie sich dabei traurig fühlen, und Sie sollten ruhig weinen, wenn Ihnen danach zumute ist.
Mein Brief sah so aus:
Lieber kleiner John,
ich bin so froh, daß Du auf die Welt gekommen bist. Ich liebe Dich und ich möchte, daß Du immer bei mir bleibst. Ich freue mich, daß Du ein Junge bist, und ich will Dir helfen, großzuwerden.
Ich wünschte mir, man würde mir die Chance geben, Dir zu zeigen, wieviel Du mir bedeutest.

Die weise Zauberin oder - wie in meinem Bild - der Erwachsene als liebevoller Bär, die wir sind, haben diese Möglichkeit. Wir müssen uns nur das Recht und uns selbst in die Pflicht nehmen, erwachsen zu sein und unser inneres Kind zu nehmen, wie es ist ... ohne Wertung.
Vergessen wir nicht, wie oft wir bewertet worden sind und wie oft uns das verletzt hat. Diese Angst dürfen wir unserem Kind nehmen.
Und uns!
Dann bekommt unser inneres Kind wieder Flügel.
Und wir!

Montag, 3. Oktober 2011

Kind und Vater ... am Anfang ist alles offen ...


Vor ziemlich genau vier Jahren, als es dieses Blog noch gar nicht gab, habe ich auf meiner EthikPost einen Post veröffentlicht, ein Schulerlebnis, das mich damals sehr bewegte und es auch, als ich es heute Morgen "zufällig" las, immer noch tut. Ich finde, es passt zu den hier angesprochenen Themen:


Liebe Anne-Kathrin,

ich danke Dir, dass Du mir erlaubt hast, Deine Zeilen hier hineinzuschreiben. Als Du sie im letzten Jahr verfasst hast, warst Du 16 und wir trafen uns im Fach Deutsch in der 11. Klasse. Jeder sollte damals im Rahmen einer Art Poetry-Slam einen Text schreiben, also eine Form von Gedicht, in dem alles erlaubt ist; wenn man will, kann man mittendrin singen oder eine Strophe auf Chinesisch vortragen.
Bewundernswert, was ihr alle damals geschrieben habt; jeder kam ja nach vorne und trug seinen Text vor. Für jeden gab es Beifall, ob sein Text vier Zeilen umfasste oder 40.
Ich war einfach nur fasziniert von der Vielfalt dessen, was ihr vortrugt.
Als Du Deine Zeilen gelesen hast, war es zunächst sehr still.
Ich war innerlich fassungslos.
Niemand hatte damit gerechnet, dass unter uns jemand ist, der so bis in seine Tiefen verletzt ist und uns Anteil nehmen lässt.
Ich glaube, ich darf im Namen aller damals Anwesenden sagen: danke für Dein Vertrauen!
Du stehst für viele andere junge Menschen, denen es auch so geht.
Du hattest den Mut zu sprechen.
Oft habe ich in unserem gemeinsamen Jahr Deine Traurigkeit in Deinem Gesicht, Deinen Augen gelesen, gesehen.
Von ganzem Herzen wünsche ich Dir, dass aus großem Trost, den Deine Seele erfahren möge, langsam, aber doch beständig und immer mehr und immer mehr wieder Freude in Dein Leben einziehen darf.

Deine Gedanken sind überschrieben


BEZIEHUNGEN


Kind und Vater
Am Anfang ist alles offen
Vertrauen – Misstrauen
Zu Beginn war das Vertrauen
Doch viele Enttäuschungen durch den Vater
ließen Misstrauen wachsen
Hoffnung – Enttäuschung
Zu Beginn gab es viel Hoffnung
Doch viele Handlungen des Vaters
ließen die Hoffnung schwinden
und Enttäuschung blieb zurück.
Freude – Traurigkeit
Zu Beginn dachte das Kind immer mit Freude an den Vater
Doch sein mangelndes Verständnis
ließen von der Freude
nur Traurigkeit übrig
Liebe – Hass
Am Anfang ist es Liebe
Eine Blume, die das Kind dem Vater schenkt
Doch der Vater erkennt das Geschenk nicht
Die Blume bleibt unbeachtet
Seinen Augen bleiben solche Dinge verborgen
Da nur Erfolg und Materielles für ihn wichtig sind
Sein Ziel fest im Blick
Zertritt er die Blume –
Langsam wächst an ihrer Stelle eine neue Pflanze –
genährt von Misstrauen und Enttäuschungen
- Hass –
- Beziehungen -


Sonntag, 2. Oktober 2011

Im Reich der Kindlichen Kaiserin. Brief des kleinen Johannes.


Liebe kindliche Kaiserin,


heute ist ein besonderes Fest, die Erwachsenen sind feierlicher als sonst. Ich sitze dann mit einem besonderen Gefühl hier in der Nord-Ost-Gemeinde und schaue auf den Altar, der voller Früchte ist und staune, wer ihn wohl so toll geschmückt hat. 
Ich bringe meine Augen gar nicht mehr weg.
So viel. So viel auf einem Altar.
Wo sind nur all die Blumen und Früchte und Kräuter her?
Wer hat sie gebracht und sich so viel Zeit genommen?


Ich höre den Pfarrer, wie er sich bedankt für alles und nehme das Berührtsein  der Erwachsenen wahr; manche haben die Augen auf und manche hören gar nicht zu, das spüre und sehe ich.
Ich weiß auch meinen Papa und meine Mama hier; meine Mama hat bestimmt auch die Augen auf und beguckt ihre Hände; zu Hause macht sie beim Beten sogar an ihnen rum; mein Papa hört bestimmt zu.
Ich möchte Dir auch danken, liebe kindliche Kaiserin, für all das Brot und Obst und Gute, was Du uns geschenkt hast und schenkst.
Weißt Du, ich weiß noch, wie meine Mama sich mit einer Schaufel auf die Straße gestürzt hat, um die Pferdeäpfel für ihren Garten aufzulesen. Ich hatte sehr Angst um sie, weil so viele Autos um sie herum fuhren; alle fuhren schnell, keiner hielt.
Wenn sie wieder da war, war ich richtig froh. Ich hätte sie am liebsten festgehalten, wenn sie wieder auf die Straße lief.
Alles, damit wir gut zu essen haben aus dem Garten.
Und ich weiß noch, wie wir morgens mit einem Leiterwägelchen loszogen in die Frankfurter Großmarkthalle, um einen Sack Apfelsinen billiger zu bekommen.
Es gibt halt nicht so viel Obst. Und Mama und Papa müssen sparen.
Mama will sowieso immer sparen.
Einmal kamen wir heim und alle Orangen waren strohig; das war schlimm.
Jedenfalls möchte ich auch Danke sagen für alles, was wir bekommen.
Ich glaube, das Fest, das wir heute feiern, heißt Erntedank.
Denke auch in Zukunft an uns und lass uns nicht im Stich und lass mich Deinen Namen finden, damit ich Dich retten kann. Das würde ich so gerne!


In Liebe,
Dein Johannes


PS: Die Kindliche Kaiserin ist Regentin des Landes Phantásien aus Michael Endes Unendlicher Geschichte. Dort ist sie krank und Atréju soll sie retten. Sie verkörpert in Michael Endes Werk die Herzensweisheit, wie sie - oft tief verborgen - sich auch in uns befindet und als Schatz gehoben sein will. Meist wissen Kinder noch mehr von dieser Weisheit als die Erwachsenen (deshalb ist auch die Kaiserin eine Kindliche Kaiserin). Weshalb Erwachsene von Kindern viel mehr lernen könnten, als sie ahnen, ahnen wollen ...

Sonntag, 18. September 2011

Wenn ein Kind ermutigt wird, lernt es, sich selbst zu schätzen

Anlässlich eines Vortrages in Bad Rotenfels im Schwarzwald über Das innere Kind in Schule, Erziehung, Mythologie und Literatur beim VGK, beim Verein für Gesundheitskultur, den zu halten ich eingeladen war, erhielt ich als Dankeschön unter anderem ein Blatt mit Worten, die ich wirklich bemerkenswert und des Merkens wert finde; sie finden sich über dem Eingang einer tibetischen Schule.
Gerade auch für unsere inneren Kinder sind sie wichtig und bedeutsam, mit denen wir ja so zartfühlend umgehen sollten, wie mit realen Kindern.
Schön, wenn solche Worte über dem Eingang einer Schule stehen! Sie lauten:

Wenn ein Kind kritisiert wird, lernt es zu verurteilen. 
Wenn ein Kind angefeindet wird, lernt es zu kämpfen.   
Wenn ein Kind verspottet wird, lernt es, sich schuldig zu fühlen.     
Wenn ein Kind verstanden und toleriert wird, lernt es, geduldig zu sein.       
Wenn ein Kind ermutigt wird, lernt es sich selbst zu schätzen.         
Wenn ein Kind gerecht behandelt wird, lernt es, gerecht zu sein.          
Wenn ein Kind geborgen lebt, lernt es zu vertrauen.               
Wenn ein Kind anerkannt wird, lernt es, sich selbst zu mögen.       
 Wenn ein Kind in Freundschaft angenommen wird, lernt es, in der Welt Liebe zu finden.

Samstag, 10. September 2011

Kinder, auch also unser inneres KInd, glauben von Natur aus an eine höhere Macht! - Vom heiligen Tandem in uns ...

In dem, wie ich finde, besten Buch über unsere inneren Kinder, in "Das Kind in uns" von John Bradshaw, ist das 11. Kapitel dem Thema "Wie man das verletzte Kind in sich beschützt" gewidmet. Es geht darin um das "Geschenk von Zeit und Aufmerksamkeit" - ein Aspekt, der erklärt, warum Michael Endes Buch Momo so bedeutsam für die inneren Kinder seiner Leser ist, und deren innere Erwachsene -, es geht um die Kommunikation mit dem inneren Kind, um eine neue Familie, die sie gegebenenfalls ihrem inneren Kind suchen müssen, und um die Kraft und den Schutz des Gebetes.
Eine bemerkenswerte Aussage von Bradshaw finde ich, dass das innere Kind jedes Erwachsenen wissen muss, dass er als Erwachsener - als Schutzinstanz also des eigenen inneren Kindes - selbst aus einer Quelle Schutz bekommt, die seine eigene Endlichkeit, die Endlichkeit des Erwachsenen also, übersteigt.
Einem Erwachsenen, der nicht an Gott glaubt, könnte es schwer fallen, seinem inneren Kind dies zu vermitteln. Aber der springende Punkt für dieses Urvertrauen in eine Macht in uns und über uns, die uns übersteigt - Bradshaw hätte sie auch einfach Liebe nennen können - hängt eben genau mit dem eigenen Verhältnis zu Vater und Mutter zusammen. Sie sind die Instanzen in uns, die uns den Zugang zu einer höheren Macht, zur Liebe öffnen oder verschließen. Wer ein gebrochenes Verhältnis zu Vater und Mutter hat, wird nicht von vornherein Zugang zu der Bedeutung des wahren Vater oder der wahren Mutter haben, zu dem, was Ethnologen und Psychologen den Großen Vater und die Große Mutter nennen und was sich auch spiegelt in vielen Anfängen von Märchen, wenn von dem guten Vater und der guten Mutter, dem guten König und der guten Königin die Rede ist. Märchen geben ja Zeugnis davon, dass irgendwann der gute König und die gute Königin starben, eine Metapher dafür, dass uns Menschen das Bewusstsein für sie verloren ging. Nun sind wir als Märchenhelden unterwegs ...
Ich fürchte, dass vielen religiösen Menschen, die ein schwieriges Elternhaus hatten oder noch gar nicht entdeckt haben, dass dies der Fall war, nicht klar ist, dass ihrem Vertrauen in Gott die Wurzel, die Grundierung fehlt, ich formuliere vorsichtiger: fehlen könnte.
Ich spreche aus eigener Erfahrung.
Aus meiner eigenen Erfahrung als Kind und Jugendlicher mit sogenannten gläubigen Menschen ergibt sich für mich der Eindruck, dass viele dieses Problem durch eine Intensivierung religiöser Gefühle überspielen.
Ein mahnendes Beispiel ist mir mein eigener Vater, der vermittelte, tief gläubig zu sein, selbst Andachtsstunden hielt, im Kirchenvorstand intensiv mitarbeitete und alles dafür tat, Menschen zu Gott zu bekehren. Lange habe ich gebraucht zu durchschauen, dass seine ständigen Hinweise auf die Liebe Gottes nur kaschieren mussten, dass er selbst für sich und seinen Jungen keine Liebe hatte. Ich vermute, dass er sich dessen bedingt bewusst war.
In hohem Alter gestand er in einer stillen Stunde, dass er Angst vor dem Sterben habe und ich bin mir sicher, dass sein wochenlanger Todeskampf so lange währte, weil er das Leben nicht loslassen konnte - aus Angst. Seitdem bin ich sehr skeptisch, wenn Menschen sagen: Ich habe keine Angst vor dem Sterben; mit 60 oder 70 Jahren hätte das mein Vater vielleicht auch gesagt.
Als er vor dem Sterben in einer Art Koma lag und ich ihn im Krankenhaus besuchte, er mich aber auf einer bewussten Ebene nicht erkannte, blieb ich einfach eine Weile bei ihm an seinem Bett sitzen. Bevor ich ging, wollte ich für ihn noch etwas Liebes tun und weil ich wusste, wie viel ihm das Vater unser bedeutete, betete ich mit ihm, besser gesagt, für ihn dieses Gebet Jesu. Ich weiß noch, dass es mich Mut kostete, nicht nur für mich, sondern öffentlich zu beten.
Es war eine Szene, die ich nie vergessen werde. In dem Raum lagen noch zwei Männer. Einer davon hatte mich bei meinem Eintritt gefragt, ob ich Besteck dabei habe oder ein Messer. Gott sei Dank hatte ich nichts davon dabei; mir kam erst später, dass er sich womöglich etwas antun wollte; sein Gesicht wirkte zerfurcht und voller tiefem Gram; seine Augen flackerten; sicherlich hatte er auch Schmerzen. Als ich zu beten begann, falteten er und der andere noch anwesende Mann die Hände, Letzterer murmelte das Gebet mit. Das Erschütterndste aber war für mich, dass mein Vater bei den Worten des Vater unser "Und vergib uns unsere Schuld" tief aufstöhnte, er, der mich auf der bewussten Ebene nicht erkannt und auf meine Ansprache nicht reagiert hatte.
Ich bin mir relativ sicher, dass die beiden anderen Männer nicht religiös waren, aber während des Vater unser war eine Atmosphäre in diesem Raum, die sich nicht beschreiben lässt. Vielleicht damit, dass ich sage: Es war in diesem Moment ein heiliger Raum. Heute glaube ich, der Raum war übervoll mit Engeln und dies, glaube ich, ist immer der Fall, wenn ein oder mehrere Menschen mit dem Herzen das Vater unser beten.
Wie auch immer der einzelne Erwachsene das anstellen mag, John Bradshaw lässt keinen Zweifel: Das innere Kind braucht das Wissen, dass es eine höhere Macht, eine höhere heilige Macht gibt. Er schreibt, an seine Leser gewandt über die Bedeutung des Gebetes für sich und sein inneres Kind, den kleinen John:
Das Gebet ist eine wunderbare Quelle des Schutzes für das verletzte Kind in Ihnen, und es wird nur zu gern gemeinsam mit Ihnen beten. Ich schließe dabei immer die Augen und stelle mir das Kind in mir vor, gleichgültig, in welchem Alter, es erscheint, Ich nehme es entweder auf den Schoß, oder wir knien beide nebeneinander und beten. Ich spreche ein erwachsenes Gebet und der kleine John ein Kindergebet. Abends betet er am liebsten: "Müde bin ich, geh zur Ruh ..." Manchmal beten wir das auch gemeinsam. Das "Memorare" ist ein Gebet, dass ich in der katholischen Grundschule gelernt habe, und wendet sich an die Mutter Gottes. Ich habe es gern, wenn meine Spiritualität weibliche Kraft enthält. Ich stelle mir Gott als eine mütterliche, zärtliche Instanz vor. Sie hält mich und wiegt mich in ihren Armen. Das gefällt auch dem kleinen John. 
Gedenke, o gebenedeite Jungfrau, daß noch nie ein Mensch, der deinen Schutz gesucht, dich um Hilfe angefleht oder um eine Fürsprache gebeten hat, nicht erhört worden ist. Ich flehe zu dir, o Jungfrau aller Jungfrauen, zu dir, meiner Mutter. Ich komme zu Dir; als Sünder und voller Kummer stehe ich vor deinem Angesicht. Weise mich nicht zurück, sondern erhöre gnädig mein Gebet. Amen 
Dem Erwachsenen in mir gefallen diese ständigen Hinweise auf die Jungfräulichkeit nicht so sehr, weil ich nicht glaube, dass Maria eine Jungfrau war. Aber das Gebet hat mir schon oft sehr geholfen. Ich habe dem kleinen John davon erzählt und er war sehr beeindruckt. Sie müssen sich selbst die Gebete aussuchen, die Ihnen und dem Kind in Ihnen helfen. Ich lege es Ihnen aber dringend ans Herz, sich selbst und ihrem verletzten inneren Kind nicht den mächtigen Schutz zu versagen, der dem Gebet entspringt.
Wirklich wirkt die tiefe Frömmigkeit John Bradshaws, selbst da, wo er von sich als eines Erwachsenen spricht, wie die eines Kindes. "Wenn ihr nicht werdet wir die Kinder ..." heißt es in der Bibel.

Bleibt noch anzumerken, dass für mich die Jungfräulichkeit Marias sich auf ihre Reinheit bezieht, auf ihre Unberührbarkeit, was so genannte "Sünden" betrifft. Schwer vorstellbar für einen Normal-Sterblichen, aber die Bibel sagt: Maria ist eine Jungfrau, sie ist rein, sie tut keine Sünde; sie ist frei von Sünden. Diese Reinheit ist für mich wie ein Schutzmantel; so können Maria Anfechtungen nicht wirklich verletzen. Insofern ist sie jungfräulich und deshalb spricht die Bibel von einer Jungfrauengeburt, einer Geburt in Reinheit, in Liebe, in reiner körperlicher und seelischer Liebe auch zu Joseph.

Ich persönlich mag auch das Wort "Sünder" und "Sünden" nicht. Das griechische Wort, das Luther mit Sünden übersetzt, hamartía, bedeutet eigentlich schlicht und einfach Fehler. Nicht von ungefähr lässt Goethe den Herrn, also Gott, in seinem Faust sagen:"Es irrt der Mensch so lang er strebt ..."
Hänsel und Gretel ver-irren sich im Wald. Luther müsste das als Sünde bezeichnen.
Das liegt wie ein Alp auf der menschlichen Seele.
Nein, wir machen Fehler, wir irren. Und es ist wichtig, dass wir um Verzeihung bitten und uns selbst verzeihen.
Bei allem hilft ein Gebet, ein Gebet unseres inneren Kindes, ein Gebet unseres inneren Erwachsenen. Goldig, wenn zwei, wie der große und der kleine John, gemeinsam knien und beten.
Vielleicht gilt auch für die beiden schon die Aussage Jesu im Matthäusevangelium: "Amen, ich sage euch, wo zwei eins werden, worum sie bitten, das soll ihnen zuteil werden von meinem Vater im Himmel."
Du und Dein inneres Kind, ich und mein inneres Kind: ein heiliges Tandem :-))

Sonntag, 7. August 2011

Es gibt sie: den inneren Kinderspielplatz, das innere Kinderzimmer! Über Kaskaden von Freude.

Gerade bin ich auf eine Google-Suche mit dem Stichwort "innerer Kinderspielplatz" gestoßen.
Erstaunlicherweise findet sich diese unmittelbare Wortzusammensetzung auf keiner Web-Site.
Dabei ist es eine wunderbare Metapher und ich gehe hier von einem lichtvollen inneren Kinderspielplatz aus, es gibt natürlich auch den dunklen, aber über den schreibe ich an diesem und überhaupt einem Sonntag nicht.
Und wie es den inneren Kinderspielplatz gibt, so gibt es auch das innere Kinderzimmer.
Tatsächlich habe ich einmal von einem solchen inneren Kinderzimmer geträumt. Es war in wunderbares Licht getaucht und dieses Licht war nicht nur hell, es war golden, goldweiß und so, als ob dieses Weiß noch Farben enthalte, es war sozusagen gold-weiß legiert mit Rot- und Gelb-Tönen.
Es gab da zwei Erwachsene, die auch in diesem Kinderzimmer präsent waren, aber in keiner Weise das Spiel der Kinder überwachten und störten, sondern es sozusagen mit ihrer Gegenwart ermöglichten. Eigentlich war es fast eher so, als ob ihre Energie präsent war, die sich freute über das Spiel der, also ihrer Kinder.
Ja, vielleicht war es sogar so, dass diese Freude das Spiel ihrer Kinder erst ermöglichte.
Heute weiß ich, dass es bedeutet, dass diese zwei Menschen in der Lage sind, auch über ihre inneren Kinder zu kommunizieren. Das ist eine Kommunikation voller Freude, Lachen, Spontaneität, Kreativität. Sie will gar nicht aufhören. Aus einer Kaskade aus Freude ergibt sich die nächste. In meinem Traum waren es Wolken von Licht, die aufeinanderfolgten, hellste Wolken, Kaskaden von Freude und Licht.
Ich weiß noch, dass ich in meinem Traum immer wieder Blitze wahrnahm, die in diesem Zimmer aufblitzten.
Natürlich steht dieses Kinderzimmer der Freude auch für äußeres Geschehen.
Dazu fällt mir ein, dass ich einmal mit einer Freundin einen Abend verbrachte in einem Lokal, in dem vor allem Jugendliche verkehrten, eigentlich kein besonderes, ein Innenstadtlokal eben.
Ich erinnere mich, dass manche immer wieder an unseren Tisch sahen. Da saßen zwei Erwachsene, die sich zwar immer mal wieder ruhig unterhielten, dann aber wieder flachsten, herumalberten ...
Nur: Diese Worte stehen nicht so recht dafür, was unsere inneren Kinder da machten, die wollten gar nicht aufhören zu lachen, ein Spaß ergab den anderen, ein Lachen löste das nächste ab ...
Und das Wunderbare in meiner Erinnerung ist: dieses Lachen, diese Freude ging nicht auf Kosten anderer, wir lachten nicht über andere, wie es ja manchmal so ist, wenn Erwachsene Späße machten, bevorzugt unsere zeitgenössischen Comedians. Nein.
Es war Freude an der Freude auf Kosten der Freude, wobei diese in Wirklichkeit keine Kosten veruracht, sondern sie bringt nur Gewinn, denn sie kann wie die Liebe ein nie versiegbarer Quell sein.
Erwachsene können, ohne verheiratet zu sein, ohne wirkliche Kinder gemeinsam zu haben, solch ein gemeinsames Kinderzimmer haben.

So kann das sein mit inneren Kinderspielplätzen, inneren Kinderspielzimmern.
Man möchte der Erde immer mehr dieses inneren Kinderzimmer, dieser inneren Kinderspielpätze wünschen.

Freitag, 29. Juli 2011

Mama, warum hasst Du mich so sehr? Über die schwarze Seite der Großen Mutter. – Fast eine Familienaufstellung in Markus Zusaks "Der Joker"

Gut, ich habe keine sonderlich glückliche Kindheit gehabt. Vielleicht liegt es daran, dass ich skeptisch bin, wenn jemand mir sagt, er habe eine glückliche gehabt und seine Eltern seien lieb zu ihm gewesen. Bei manchen Menschen kommt das so einschränkungslos rüber, dass diese Einschätzung schon ihren Grund haben mag ... 
Auch in meiner Familie, unter uns Geschwistern, ist die Sichtweise auf meine Eltern und unsere Ursprungsfamliie durchaus unterschiedlich. 
Sie hängt schlicht und ergreifend mit der Position zusammen, die jedes Kind im Rahmen der Familie einnahm und - wenn sie nicht aufgedeckt, angesprochen und bearbeitet wird - einnimmt mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Leben.
Hat ein Kind eine privilegierte Position, dann wird es zu einem anderen Urteil kommen als ein Geschwister, dass seinen ihm zustehenden Anteil im Rahmen der Familie nie bekommen hat und im Leben womöglich aus scheinbar unerfindlichen Gründen immer der Loser sein wird. Die Wurzeln aber liegen in der Usprungsfamilie: Hier liegen die Gründe, warum das eine Kind Professor wird, das andere kaufmännischer Angestellter, warum der eine zum Drogenabhängigen wird, der andere zu jemandem, der eine Familie gründet und gar nicht verstehen kann, wie jemand aus der eigenen Familie so abgleiten kann. Wo doch die Familie so intakt war.
Sie war es eben nur für ihn! Und das auch nur an der Oberfläche.
Wenn  man eine Familienaufstellung macht (wer dieses Verfahren nicht kennt, Video auf dieser Seite anschauen), kommt in aller Regel heraus, wo man selbst im Rahmen seiner Familie steht und ob Vater und Mutter einen z.B. anschauen oder nicht. Und wen sie anschauen. Vielleicht ist es sogar so, dass der Vater oder die Mutter verdeckt sind durch Geschwister, dass also jemand zwischen den Eltern und einem selbst steht ... jede Familie hat ja ihre eigene Charakteristik. Und niemand möge annehmen, die Wirkung der Familienstruktur lasse mit dem Tod der Eltern nach. Im Gegenteil. (Vorsicht nur bei der Auswahl des Familienaufstellers: Da dilettieren mittlerweile ziemlich viele verantwortungslos herum).

Ein weiterer Punkt, was die Beurteilung der Familie betrifft, ist einfach, dass Glück und Liebe relativ sind. Was für den einen schon Liebe ist, es es für einen anderen noch lange nicht. Und genauso verhält es sich mit Glück. 
Als Kinder übernehmen wir, was unsere Eltern als Liebe definieren, und sei diese Definition auch reduziert.
Im Folgenden zitiere ich eine Passage aus oben erwähntem Buch, über das ich an anderer Stelle etwas ausführlicher informiert habe.
Ed Kennedy wird von einem ihm Unbekannten angehalten, sich der Lösung von Aufgaben zu stellen, Botschaften zu überbringen, die er mittels Karten, Assen genauer gesagt, erhält. Insgesamt wird er vier Asse erhalten und dann noch die Joker-Karte. Manchmal muss er der Botschaft zuliebe gewaltige Prügel einstecken, manchesmal erlebt er unglaublich Schönes.
In der folgenden Szene hat er eine Aufgabe zu lösen, eine Botschaft zu überbringen, aber er weiß nicht an wen, er weiß nur, dass sie mit einer Kneipe, dem Melusso´s zusammenhängt. 
Nachdem er seinen baufälligen und furchtbar stinkenden Hund namens Türsteher versorgt hat - mit ihm unterhält er sich immer per Gedankensprache - macht er sich auf den Weg.
Der folgende Buchausschnitt stammt aus Teil III "Schwere Zeiten für Ed Kennedy"; seine Aufgaben erhielt er auf einem Pik Ass; wir befinden uns im Rahmen der zweiten Aufgabe des Pik Ass:

 Ich betrete das Restaurant, den allumfassenden Duft und die Wärme von Spagettisoße, Pasta und Knoblauch. Ich halte die Augen offen, ob mir irgendjemand folgt, aber ich habe keinen Menschen bemerkt, der auch nur das mindeste Interesse an mir gezeigt hätte. Nur Leute, die tun, was sie zu tun gewohnt sind.
Sich unterhalten. Falsch parken.
Fluchen. Ihren Kindern sagen, dass sie sich beeilen und aufhören sollen zu heulen.
Solche Sachen.
Im Restaurant bitte ich die Kellnerin, mir einen Tisch in der dunkelsten Ecke zu geben.
»Da drüben?«, fragt sie entgeistert »Neben der Küche?«
»Ja, bitte.«
»Da wollte noch niemand freiwillig sitzen«, erklärt sie. »Sind Sie ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
Was für ein sonderbarer Kerl, denkt sie zweifellos, aber sie führt mich zu dem Tisch.
»Weinkarte?«
»Wie bitte?«
»Möchten Sie einen Wein trinken?«
»Nein, danke.«
Sie fegt die Weinkarte vom Tisch und nennt mir die Empfehlungen des Hauses. Ich bestelle Spagetti Bolognese und Lasagne.
»Erwarten Sie noch jemanden?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
»Sie wollen beide Gerichte essen?«
»Oh, nein«, antworte ich. »Die Lasagne ist für meinen Hund. Ich habe versprochen, dass ich ihm etwas mitbringe.«
Diesmal bedenkt sie mich mit einem Blick, der sagt: »Was für ein erbärmlicher, einsamer Kerl«, was völlig verständlich ist, nehme ich an. Aber sie sagt: »Ich bringe Ihnen die Lasagne, bevor Sie gehen, einverstanden?«
»Ja, danke.«
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke.«
Ich trinke nie etwas in einem Restaurant, denn ein Getränk kriege ich überall. Aber kochen kann ich nicht und nur deshalb gehe ich überhaupt in Restaurants.
Sie geht weg und ich schaue mich um. Die Hälfte der Tische ist besetzt. Menschen schlagen sich die Bäuche voll, andere trinken Wein, während sich ein junges Pärchen über den Tisch hinweg küsst und sich gegenseitig mit Nudeln füttert. Die einzig interessante Person ist ein Mann, der an derselben Wand sitzt wie ich. Er wartet auf jemanden, trinkt Wein, isst aber nichts. Er trägt einen Anzug und hat sein welliges silberschwarzes Haar glatt zurückgekämmt.
Kurz darauf kommt die Spagetti Bolognese und gleichzeitig die volle Bedeutung dessen, warum ich hier bin.
Ich hätte mich beinahe verschluckt, als die Begleitung des Mannes an den Tisch tritt. Er steht auf, küsst sie und legt ihr die Hände auf die Hüften.
Die Frau ist Beverly Anne Kennedy.
Bev Kennedy.
Auch bekannt als meine Mutter.
Oh, Scheiße, denke ich und ziehe den Kopf ein.
Aus irgendeinem Grund fühle ich mich, als müsste ich mich gleich übergeben.
Meine Mutter trägt ein schmeichelndes Kleid. Es ist dunkelblau und glänzend. Die Farbe erinnert mich an eine stürmische Nacht. Graziös setzt sie sich hin. Ihr Haar rahmt ihr Gesicht weich ein.
Kurz gesagt: Dies ist das erste Mal, dass sie in meinen Augen tatsächlich wie eine Frau aussieht. Normalerweise ist sie lediglich meine kratzbürstige Mutter, die mich beschimpft und mich einen nutzlosen Versager nennt. Heute Abend aber trägt sie Ohrringe und ihr dunkles Gesicht und die braunen Augen lächeln. Sie zeigt ein paar Falten, wenn sie lächelt, aber ja, sie sieht glücklich aus.
Sie wirkt glücklich als Frau.
Der Mann ist ein echter Gentleman, schenkt ihr Wein ein und fragt sie, was sie essen möchte. Sie unterhalten sich mit offenkundigem Vergnügen und einer gewissen Gelassenheit. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ehrlich gesagt versuche ich es auch gar nicht.
Ich denke an meinen Vater.
Ich denke an ihn und bin sofort niedergeschlagen.
Frag mich nicht, warum, aber ich habe den Eindruck, dass er etwas Besseres verdient hat.
Natürlich war er ein Säufer, besonders gegen Ende seines Lebens, aber er war so freundlich, so großzügig und sanft. Ich schaue in meine Spagettisoße und sehe sein Gesicht vor mir, sein kurzes schwarzes Haar und seine fast farblosen Augen. Er war ziemlich groß, und wenn er zur Arbeit ging, trug er immer ein Flanellhemd und hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Zu Hause rauchte er nie. Nicht im Haus jedenfalls. Auch er war ein Gentleman, trotz allem.
Ich denke auch daran, wie er, nachdem die Kneipe zugemacht hatte, durch die Haustür getorkelt kam und sich aufs Sofa fallen ließ.
Natürlich brüllte meine Mutter ihn an, aber es nutzte nichts.
Sie piesackte ihn sowieso jeden Tag. Er arbeitete sich den Hintern wund, aber es war nie genug für sie. Erinnerst du dich noch an die Sache mit dem Beistelltisch? Mit so etwas musste sich mein Vater jeden Tag herumschlagen.
Als wir jünger waren, hat er oft Ausflüge mit uns Kindern unternommen, zum Nationalpark, an den Strand und zu einem etwas weiter entfernten Spielplatz mit einem riesigen Raumschiff aus Metall. Nicht so wie die Spielplätze, auf denen die armen Kinder heutzutage spielen müssen - überall nur Plastik, zum Kotzen. Er unternahm viel mit uns und schaute schweigend zu, wie wir spielten. Manchmal blickten wir zu ihm, und dann saß er da, rauchte zufrieden und träumte vor sich hin. Die erste Erinnerung meines Lebens ist meine Wenigkeit im Alter von vier Jahren, wie ich auf Gregor Kennedv, meinem Vater, Huckepack ritt. Damals war die Welt noch nicht so groß und ich konnte alles sehen. Damals war mein Vater ein Held und kein Mensch.
Jetzt sitze ich hier und frage mich, was ich als Nächstes tun muss.
Meine erste Tat ist der Entschluss, meinen Teller nicht leer zu essen. Ich beobachte meine Mutter und ihren Begleiter. Es ist nicht zu übersehen, dass die beiden nicht zum ersten Mal hier sind. Die Kellnerin kennt sie und bleibt kurz an ihrem Tisch stehen, um ein paar Worte zu wechseln. Sie fühlen sich wohl in der Gesellschaft des anderen. Ich will bitter sein und zornig, aber ich bremse mich noch rechtzeitig. Was für einen Sinn hätte das? Immerhin ist sie ein Mensch und hat das Recht, glücklich zu sein, genauso wie jeder andere.
Erst ein paar Minuten später begreife ich meinen ersten Impuls, ihr das offensichtliche Glück zu neiden.
Es hat nichts mit meinem Vater zu tun.
Es hat mit mir zu tun.
In einem plötzlichen Anfall von Übelkeit erkenne ich den absoluten Horror der Situation:
Da sitzt meine Mutter, etwas über fünfzig Jahre alt, und flirtet ungeniert mit irgendeinem Typen - und hier sitze ich, in der Blüte meiner Jugend, ganz und gar allein.
Ich schüttele den Kopf.
Über mich selbst.
Pik 10 Sturm auf der Veranda
Die Kellnerin räumt die restlichen Spagetti ab und bringt die Lasagne des Türstehers in einer billigen Aluschale. Er wird sich darüber vermutlich sehr freuen.
Ich husche zum Tresen und bezahle, schaue mich noch einmal nach meiner Mutter und dem Mann um, vorsichtig, um nicht gesehen zu werden. Aber sie ist völlig in ihn versunken. Sie starrt ihn an und lauscht seinen Worten mit einer solchen Intensität, dass ich mir keinerlei Mühe mehr gebe, meine Anwesenheit zu verbergen. Ich bezahle und verlasse das Restaurant, gehe aber nicht heim.
Ich laufe zum Haus meiner Mutter und warte auf der Veranda.
Das Haus riecht nach meiner Kindheit. Ich kann riechen, wie der Duft unter der Tür nach draußen kriecht, während ich auf dem kühlen Betonboden hocke.
Die Nacht funkelt vor Sternen. Ich lege mich auf den Rücken und schaue hinauf, verliere mich dort oben. Ich habe das Gefühl, als würde ich fallen, aber nach oben, hinein in den Abgrund des Himmels über mir.
Das Nächste, was ich fühle, ist ein Fuß, der mich anstupst.
Ich wache auf und richte meine Augen auf das Gesicht, das zu dem Fuß gehört.
»Was willst du denn hier?«, fragt sie.
So ist meine Mutter.
Die Freundlichkeit in Person.
Ich stütze mich auf den Ellbogen auf und beschließe, nicht um den heißen Brei herumzureden.
»Ich wollte dich fragen, ob du dich im Melusso's gut amüsiert hast.«
Ein Ausdruck der Überraschung fällt ihr aus dem Gesicht, obwohl sie versucht, ihn aufzuhalten. Er löst sich und erst dann bekommt sie ihn zu fassen und dreht ihn hin und her. »Es war sehr nett«, sagt sie, aber ich merke, dass sie versucht, Zeit zu gewinnen, um sich ihre Argumente zurechtzulegen. »Eine Frau muss leben.«
Ich setze mich auf. »Na klar.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ist das der einzige Grund, warum du hier bist - um mir vorzuhalten, dass ich mit einem Mann zum Essen verabredet war? Ich habe Bedürfnisse, weißt du?« 
Bedürfnisse.
Hör sie dir an.
Sie geht an mir vorbei zur Tür und steckt den Schlüssel ins Schloss. »Also, Ed, wenn du nichts dagegen hast - ich bin sehr müde.«
Jetzt.
Der Moment.
Beinahe hätte ich gekniffen, aber heute Abend stehe ich auf. Ich weiß ganz genau, dass ich der einzige Spross dieser Frau bin, den sie in einer solchen Situation nicht ins Haus bitten wird. Wenn meine Schwestern hier wären, würde sie jetzt schon Kaffee kochen. Wenn es Tommy wäre, würde sie ihn fragen, ob ihn seine Professoren an der Universität gut behandeln, und ihm eine Cola und ein Stück Kuchen anbieten.
Aber an mir, Ed Kennedy, ganz genauso ihr Fleisch und Blut wie ihre anderen Kinder, geht sie vorbei. Mir verweigert sie die Freundlichkeit, mich bittet sie nicht herein. Ich wünsche mir, dass sie nur ein einziges Mal ein kleines bisschen liebenswürdig zu mir ist.
Die Tür hat sich schon fast geschlossen, da halte ich sie mit der Hand auf.
Es erklingt ein Geräusch, als ob jemand eine Ohrfeige bekommen hätte.
Ihr Gesicht wird hart.
Ich spreche, deutlich und unmissverständlich.
»Ma?«, sage ich.
»Was?«
»Warum hasst du mich so sehr?«
Jetzt schaut sie mich an, diese Frau, während ich mich bemühe, dass meine Augen mich nicht verraten.
Tonlos, ohne Umschweife, antwortet sie mir.
»Weil du mich so sehr an ihn erinnerst, Ed.«
Ihn?
Dann begreife ich.
Ihn - an meinen Vater.
Sie geht ins Haus und die Tür schlägt zu.
Ich war gezwungen, einen Mann zu den Klippen zu bringen und so zu tun, als wollte ich ihn umbringen. Zwei Schläger haben in meiner Küche Pasteten gegessen und mich grün und blau geprügelt. Und ich musste mich von ein paar aufgebrachten Teenagern vermöbeln lassen.
Doch dies ist meine dunkelste Stunde.
Da stehe ich.
Verletzt.
Auf der Veranda meiner Mutter.
Der Himmel öffnet sich, fällt auseinander.
Ich möchte mit meinen Händen und meinen Füßen gegen die Tür hämmern.
Ich tue es nicht.
Ich sinke nur auf die Knie, gefällt, niedergemäht von der Brutalität ihrer Worte. Ich versuche, etwas Gutes darin zu sehen, denn ich habe meinen Vater geliebt. Abgesehen von seinem Alkoholproblem glaube ich nicht, dass es eine Schande ist, ihm ähnlich zu sein.
Warum fühle ich mich dann so schrecklich?
Ich rühre mich nicht.
Im Gegenteil - ich schwöre mir, dass ich diese beschissene Veranda nicht verlassen werde, bis ich die Antworten bekommen habe, die mir zustehen. Ich werde hier schlafen, wenn es sein muss, und morgen den ganzen Tag in der sengenden Hitze hier warten. Ich stehe auf und rufe.
»Ich gehe nicht weg, Ma!« Noch einmal. »Hörst du mich? Ich gehe nicht weg.«
Nach etwa einer Viertelstunde wird die Tür aufgezogen, aber ich schaue meine Mutter nicht an. Ich drehe mich um und spreche die Straße an, sage: »Du behandelst die anderen so gut - Leigh, Kath und Tommy. Es ist, als ob...« Ich lasse nicht zu, dass ich schwach werde. Ich halte mich zurück. »Aber mir gegenüber benimmst du dich so, als würdest du mich nicht im Mindesten respektieren. Dabei bin ich derjenige, der hier ist.« Jetzt schaue ich sie an. »Ich bin hier, wenn du etwas brauchst. Und jedes Mal wenn du mich um etwas bittest, tue ich es, oder etwa nicht?«
Sie nickt. »Ja, Ed.« Im nächsten Moment stürzt sie sich wie ein Habicht auf mich. Sie greift mich mit ihrer Version der Wahrheit an. Die Worte schneiden mir so messerscharf in die Ohren, dass ich fast erwarte, es müsse Blut aus ihnen hervorquellen. »Ja, du bist hier und genau das ist der Punkt!« Sie breitet die Arme aus. »Schau dir dieses Dreckloch an! Das Haus, die Stadt, einfach alles.« Ihre Stimme ist dunkel. »Und was deinen Vater angeht - er hat mir versprochen, dass wir eines Tages von hier weggehen würden. Er hat mir versprochen, dass wir packen und wegziehen würden, und schau dir an, wo wir sind, Ed. Wir sind immer noch hier. Ich bin hier. Du bist hier und genau wie bei deinem alten Herrn kommt von dir auch nur leeres Geschwätz. Nur Worte, keine Taten. Du...« Giftig deutet sie mit dem Finger auf mich. »Du könntest genauso viel erreichen wie die anderen. Sogar so viel wie Tommy... Aber du bist immer noch hier und du wirst auch in fünfzig Jahren noch hier sein.« Sie klingt so kalt. »Und du wirst nichts aus dir gemacht haben.«
Die Stimme verklingt zu Schweigen.
Sie bricht es wieder. »Ich will doch nur«, sagt sie, »dass du dein Leben nicht vergeudest.« Langsam kommt sie auf die Stufen zu und sagt: »Ich möchte, dass dir etwas klar wird, Ed.«
»Was?«
Ganz vorsichtig schiebt sie den Satz aus ihrem Mund. »Ob du es glaubst oder nicht - es bedarf einer Menge Liebe, um jemanden so zu hassen.«
Ich versuche zu begreifen.
Sie steht immer noch auf der Veranda, als ich hinunter in den Vorgarten gehe. Ich drehe mich um.
Mein Gott, ist das dunkel.
So dunkel wie das Pik-Ass.
»Hast du dich schon mit diesem Mann getroffen, als Dad noch am Leben war?«, will ich von ihr wissen.
Sie schaut mich an, wünscht sich, dass sie es nicht tun müsste, und obwohl sie nichts sagt, weiß ich es. Ich weiß, dass sie nicht nur meinen Vater hasst, sondern auch sich selbst. Und dann wird mir bewusst, dass sie sich irrt.
Es ist nicht die Stadt, denke ich. Es sind die Menschen.
Wir wären dieselben, egal wo wir uns befänden.
Wieder spreche ich. Eine letzte Frage.
»Hat Dad es gewusst?«
Langes Schweigen.
Ein Schweigen, das tötet, bis meine Mutter sich abwendet und weint. Die Nacht ist so tiefschwarz, dass ich mich frage, ob die Sonne jemals wieder aufgeht.

Diese Passage enthält unglaublich viel, und keine Frage: Ed Kennedy erfährt sehr viel, was für ihn wertvoll ist.
Ganz offensichtlich ist, welche Rolle, welche Position er in der Familie einnimmt. Ihm selbst ist klar, dass seine Mutter seine Geschwister Tommy und Kathie ganz anders behandelt.
Diese Position allerdings müsste er noch viel klarer sehen, um deren ganzes Ausmaß zu erkennen, warum zum Beispiel nämlich seine Geschwister erfolgreich sind und nicht von ungefähr das Weite gesucht haben und er Taxifahrer ist in einem Betrieb, in dem der Chef so mit ihm umgeht, wie es sonst nur seine Mutter mit ihm tut, und warum er noch in der Nähe der Mutter wohnt.
Jede Familie hat ein bestimmtes Maß an Familienenergie, die auch mit der Kraft der Ahnen zusammenhängt, die hinter Vater und Mutter, Oma und Opa väterlicher- und mütterlicherseits stehen. Die Bibel noch wusste um die Bedeutung dieser Familienenergie, deshalb werden im Alten Testament so ausführlich und recht oft Stammbäume aufgelistet.
Das kommt nicht von ungefähr; dahinter steht das Bewusstsein der Lebensweisheit, dass Familien und Stammbäume sehr viel zu vergeben haben, sehr viel Lebensenergie. 
Ist Ed sich zudem klar über die Bedeutung dessen, wie seine Mutter ihn weckt? – Mit dem Fuß?! Eine Mutter stupst ihr Kind nicht mit dem Fuß wach. Es ist derselbe Fuß, der verbal ständig zutritt. Es scheint nicht so, dass Ed Kennedy sich dessen bewusst ist, wohl aber glaubt man zu spüren, dass er auf dem Weg zur Wahrheit ist.
Die Frage darf dennoch gestellt werden: Bringt diese Stelle ihn entscheidend weiter?
Aus noch anderen Gründen: Nein! – Um es genauer zu formulieren: Noch nicht.
Zu sehr darf die Mutter bleiben, wie sie ist.
Zu sehr bleibt ihre Kosmetik bestehen, etwas in ihrer Aussage: "Es bedarf einer Menge Liebe, um jemanden so zu hassen."
Das klingt gut, so ein Satz, ja, ist er - psychologisch gesehen - nicht sogar wahr?
Ja, so raffiniert sind solche Antworten, dass man denkt: Vielleicht  hat sie doch einen guten Kern! Tut sie nicht doch im Grunde alles aus Liebe?
Und schon ist man im Seichten, da, wo die Mutter ihren Ed haben will.
Die Wahrheit aber ist:
Diese Antwort ist im Grunde eine Verhöhnung ihres Sohnes.
Genauso wie ihre Aussage: "Ich will doch nur, dass du dein Leben nicht vergeudest."
Darum geht es ihr nicht im Geringsten.
Dazu braucht man das Buch nicht zu lesen, um das zu wissen. Denn das ist elterliche Strategie, dass sie ihre schrecklichen Programme hinter solchen Floskeln verstecken.
Ich will doch nur Dein Bestes.
Das ist meistens eine der größten Lügen, die Eltern aussprechen. Meistens muss man nämlich nur die Methoden anschauen, mit der sie dieses Beste durchsetzen wollen, um zu wissen, dass sie etwas durchsetzen, zu was sie ihr Inneres verdonnert.
So, wie mit ihnen umgegangen worden ist, so gehen sie in der Regel auch mit ihrem Kind um: Ich will doch nur dein Bestes!
Klar geht es nicht darum, ob Eltern böse sind. Das sind sie nicht. Sie geben weiter, wie mit ihnen umgegangen wurde, manchmal kaschieren sie es. Früher schlug man als Elternteil viel eher zu; heute ist das nicht mehr "in"; man schlägt keine Kinder - äußerlich. Effektiver kann man sie innerlich schlagen. Und das ist noch gemeiner, weil solche Schläge oft nicht als Gewalt enttarnt werden.
Doch auch hier geht es nicht um gut und böse. Auch meine Eltern gaben ihr "Bestes".
So viel "Bestes", dass ich alle Mühe habe, es zum Guten zu wenden ...
In der Buch-Szene steht Ed Kennedy auf. Auch das ist ein symbolischer Akt, und das Gute ist, Ed ist sich dessen bewusst. Er lässt sich nicht einfach rauswerfen.
Man muss sich das vorstellen: Diese Mutter wirft ihren Sohn raus. Sie wirft ihn so raus, wie sie ihn lieblos ins Leben geworfen hat, als der den Mutterleib verließ.
Solch eine Mutter wirft ihr Kind in das Dunkel des Lebens. Nicht, dass das Leben per se dunkel ist. Keineswegs. Aber für solche Kinder wie für Ed ist es das. Es ist so dunkel wie das Innere dieser Mutter.
Den Archetypus der Großen Mutter kennen wir aus der Psychologie. Und diese Große Mutter hat eine lichte, aber auch eine sehr dunkle Seite. Der leider viel zu früh verstorbene Arzt und Psychiater Erich Neumann hat ihre Wandlungsseiten in seinen Büchern vielfach aufgezeigt, u.a. in "Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten". Jede Frau nun nimmt an diesen Seiten mehr oder weniger Anteil. Manche Frauen und Mütter haben sehr viel Lichtes, manche allerdings auch sehr viel Dunkles. Eds Mutter ist eine von ihnen.
Markus Zusak bringt das zum Ausdruck, indem er die Nacht tiefschwarz sein lässt.
Ed spürt diese Schwärze, und das ist gut so. Aus dieser Schwärze kommt kein Ton. Aus diesen Schwarzen Löchern kommt kein Licht. 

Ed beginnt NEIN zu sagen zu dieser Schwärze. Dadurch kann ihm immer mehr bewusst werden.
Deutlich wird dies am nächsten Weihnachtsfest, als sich die Familie bei der Mutter trifft. Da nimmt Ed Bezug auf die bereits oben zitierte Aussage der Mutter:

»Schau dir dieses Dreckloch an! Das Haus, die Stadt, einfach alles.« Ihre Stimme ist dunkel. »Und was deinen Vater angeht - er hat mir versprochen, dass wir eines Tages von hier weggehen würden. Er hat mir versprochen, dass wir packen und wegziehen würden, und schau dir an, wo wir sind, Ed. Wir sind immer noch hier. Ich bin hier. Du bist hier und genau wie bei deinem alten Herrn kommt von dir auch nur leeres Geschwätz. Nur Worte, keine Taten. Du...« Giftig deutet sie mit dem Finger auf mich. »Du könntest genauso viel erreichen wie die anderen. Sogar so viel wie Tommy... Aber du bist immer noch hier und du wirst auch in fünfzig Jahren noch hier sein.« Sie klingt so kalt. »Und du wirst nichts aus dir gemacht haben.«

Er enttarnt die dunkle Magie der Mutterworte, indem er sagt, als er die Weihnachtsfeier verlässt:
»Wenn du hier weggegangen wärst, wärst du trotzdem überall dieselbe Person gewesen.«

Und der Ich-Erzähler, also Ed, lässt uns weiter teilhaben: 
Das ist eigentlich genug der Wahrheit, aber ich kann nicht schweigen. »Wenn ich jemals hier weggehen sollte ...« – ich muss schlucken – »dann werde ich dafür sorgen, dass ich zuerst hier ein besserer Mensch geworden bin.«
»Okay, Ed.« Sie ist verblüfft und ich empfinde Mitgefühl für diese Frau auf dieser Veranda in dieser armseligen Straße in dieser gewöhnlichen Stadt. »Hört sich gut an.«
»Bis bald, Ma.«
Ich bin weg.
Das musste mal gesagt werden.


Ed ist gewiss auf einem richtigen Weg, doch ich hoffe, dass er die wirkliche Gerissenheit  der dunklen Mutter durchschaut; Mitleid mit dieser Mutter ist nicht angebracht. Noch lange, lange nicht!
Dazu ist sie viel zu gerissen, um vieles gerissener, als Ed es ahnt und durchschaut; sie hat tausend Mittel, um ihren Jungen dennoch in Abhängigkeit zu halten. Denn er hat zu erfüllen, was sein Vater nicht tat: Er hat seine Mutter aus dem Dreckloch zu bringen. Er hat den Prinzen zu spielen, als der sein Vater kläglich versagte.
Und Ed hat noch ein Problem: Er idealisiert seinen Vater. 
Es hat seinen Grund, dass sein Vater sich in diese Situation mit dieser Frau manövrierte.
Und wie seine Mutter auch ihre lichten Seiten hat, so hat sein Vater dunkle, vielleicht mehr, als Ed zu entdecken bereit ist. Es sind schließlich die, die auch er übernommen hat.


Dieses Buch zeigt am Schluss eine wunderbare Lösung auf, wie Ed sich befreien kann, wie er zum Autor seines Lebens wird.
Als Leser nehmen wir teil an dieser Entwicklung.
Dieses Buch - zu Recht erhielt es zahlreiche Preise, unter anderen den bedeutenden Deutschen Jugendliteraturpreis 2007 - ist eines der wenigen, das ich kenne, das Hoffnung macht. Es verweist am Schluss in einer nicht ganz leicht zu decodierenden Passage den Leser darauf, doch selbst Autor seines Lebens zu sein
Deshalb ist es unendlich wertvoll.


Ein weiterer Post zu Der Joker:
Kann man sich in ein Buch verlieben? – Man kann! – 
Eine meiner Lieblingsszenen aus Markus Zusaks Der Joker