In diesem Blog veröffentliche ich Buchauszüge, Gedichte und eigene Gedanken zum Thema des inneren Kindes und des Kindseins überhaupt.
Eigentlich haben wir viele innere Kinder in uns: solche voller Energie, aber auch verletzte und sterbende Kinder, die wieder zu wirklichem Leben erweckt sein wollen ...
Ohne lebendige innere Kinder sind Erwachsene ohne wirkliche Individualität und oft nicht fähig zu spielen und kreativ zu sein ... Wie also die Kinder in uns wahrnehmen, wie mit ihnen umgehen?
Wer den Beginn der Geschichte um Momo kennt, weiß, dass sie eines Tages in der Ruine des Amphitheaters vor der Stadt auftaucht. Die Leute erfahren von ihr und kommen und fragen sie aus, fragen auch nach ihren Eltern, ernten aber nur ein Schulterzucken und als sie fragen, wer ihr denn ihren Namen gegeben habe, antwortet Momo: Ich.
In den Mythen sind Helden oft Waisen oder zumindest Halbwaisen. Auch in den Märchen ist es ja oft so, dass der Vater krank wird, die Mutter stirbt ... auf einmal ist der Held allein.
So allein ist auch Momo.
Viele Menschen haben Vater und Mutter, in Wirklichkeit sind sie aber doch allein.
Das ist schlimm, schlimmer als Waise zu sein. Denn keinen Vater und Mutter zu haben, wenn man glaubt, man habe welche, kann ein Leben lang undurchschaubar sein. Zwei Hohlräume, die man für Vater und Mutter hält.
Jeder Mensch muss überprüfen, ob er Vater und Mutter hat.
Wenn sie fehlen, fehlt etwas in uns, was uns erwachsen werden lässt.
Wenn sie fehlen, ist die Linie zu den Ahnen gestört. Und wie wichtig diese Linien sind, wissen wir spätestens seit Hellinger und seinen Familienaufstellungen. Wer im Rücken seine Ahnen hat, ist stark, wer sie nicht hat, läuft Gefahr, auf den Rücken zu fallen. Es macht einen tiefen Sinn, dass im Alten Testament immer wieder die Reihe der Ahnen aufgelistet werden. Früher hielt ich das für Papierverschwendung. Heute weiß ich, dass jeder Ahne eine Bedeutung hat. Es geht nicht darum, dass wir ihn in einem vordergründigen Sinn kennen, es geht darum, dass er eine Sprosse auf jener Leiter ist, auf der wir uns zum Himmel strecken.
Zudem ist die Gefahr riesig, dass eine Frau sich einen Mann sucht, der Vater für sie sein soll, und genauso besteht die Gefahr, dass ein Mann sich eine Frau sucht, die Mutter sein soll.
Nicht, dass diese Ehen unglücklich sein müssen, aber wirkliches Glück ist nur in einer symmetrischen Beziehung zu finden, nicht in einer zwischen Kind und Elternteil.
Momo findet in Meister Hora einen Vater:
Sie stürzte auf ihn zu, er nahm sie auf den Arm und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Wieder legten sich seine Hände schneeleise auf ihre Augen und es wurde dunkel und still und sie fühlte sich geborgen.
Dieses Gefühl der Geborgenheit und bedingungslosen Liebe, das braucht jeder Mensch. Auch der verlorene Sohn im biblischen Gleichnis hat es bei seiner Rückkehr erlebt, dieses bedingungslose Auf- und Angenommensein.
Wer dieses Gefühl nicht kennt, muss es nacharbeiten. Ich glaube, man kann das. Sonst fällt ein Mann immer wieder auf Vaterfiguren herein und fährt auf sie ab, ohne es zu merken. Und auch eine Frau sucht primär den Vater im Mann und nicht den ebenbürtigen Partner.
Sorgfältig bei einer möglichen Nacharbeit müssen wir unterscheiden, ob wir nur Ersatzfiguren gesucht und gefunden haben oder ein wirkliches Vorbild, das uns sagen lässt: Diese Energie erfüllt meine Seele. Ansonsten bleibt ewig eine Sehnsucht. Eben eine Sucht.
In der Welt der Erwachsenen, gerade auch der Erwachsenen, die mit Erziehung zu tun haben, gibt es genug, die ausgesprochene Narzissten sind, das heißt, die alles, was sie tun, auf ein Ziel ausrichten: selbst Pfau zu sein. Wie toll ist doch das Kind der ach so lieben Mutter, wie toll kann es Ballett tanzen, wie toll Klavier spielen, wie gut kann es ein Gedicht aufsagen und wie freundlich kann es säuseln. Die Mutter ist ganz glücklich und freut sich über ihr Kind; sie tut ja auch alles für ihre Tochter, ihren Sohn. Manchmal sieht es so in der Öffentlichkeit aus; zu Hause ist sie womöglich nicht mehr die liebe Mama, sondern kann recht barsch sein. Dann kann man schon mal eine verzweifelte Tochter erleben, die giftet, anstatt zu säuseln. Oder, die andere Variante: Wehe, Sohn oder Tochter machen nicht das, was sie sich vorstellt, kein Ballett mehr, auf das sie so stolz war, kein Klavier mehr, das so begabt durchs Haus klang. Dann auf einmal ist die Tochter nicht mehr die liebe; dann auf einmal kann es sein, dass sie sich Vorwürfe anhören muss, weil sie nicht tut, was die Mutter wollte, die doch nur ihr Bestes will. Aber das Beste ist immer das, was die Mama will, nicht die Tochter. Und es ist immer das, was letztendlich die Mutter in den Vordergrund schiebt, auszeichnet. Oder der Lehrer: Was hat er nicht für eine tolle Klasse. Natürlich liegt es an ihm. Aber wehe, sie ist nicht toll, dann distanziert er sich so schnell von den Kindern, schneller geht´s nicht, dann sind sie unfähig und faul, gehören nicht aufs Gymnasium oder oder oder ...
Klar, das ist alles ein bisschen pauschalisiert und überzeichnet. Aber wahr ist: Es gibt Erwachsene, die wollen sich großtun in ihrem Kind, wollen in den Kindern ihr eigenes Verletztsein kaschieren. Indem die Kinder die eigene Eitelkeit stützen, muss man nicht wahrnehmen, dass es da keine innere Größe gibt, sondern eine innere Leere. Deshalb dürfen auch der liebe Sohn oder die liebe Tochter nicht aus dem Haus oder werden mit allen Mitteln daran gebunden ... ohne sie könnte man die eigene innere Leere wahrnehmen müssen ... Solche Erziehenden sind ja keine schlechten Menschen, ja manchmal können sie sogar Kinder richtiggehend begeistern. Aber diese verstehen, wenn es mal nicht so läuft, wie sie selbst es geplant haben, können sie die Kinder in Wahrheit nicht. Dazu müssten sie sich erst selbst verstehen, ihre Schwächen, die vielen kleinen Geschwüre unter den Pfauenfedern akzeptieren oder das eine große: sich nicht lieben zu können.
Auch die eigenen inneren Kinder kann man missbrauchen. Wie kann mancher Erwachsene doch aufdrehen, herumalbern, seine inneren Kinder juchzen lassen. Die ganze Gesellschaft und ihre inneren Kinder kommen mit ihm auf Touren. Meine Güte ist er ein Gesellschafter, was haben er oder sie für Ideen, wie einfallsreich, nie wird es langweilig ... Doch wenn er allein ist, dann vergraben sich seine inneren Kinder in den Schutthalden seiner Depression, dann bekommen sie nichts zu essen, bekommen keine Liebe. Nie sind sie in Wahrheit geliebt worden. Nie, so wie er oder sie als Kind auch nicht. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass sie vor anderen unglaublich aufgedreht sind, einfallsreich, lustig, bestens gelaunt, ja, auch mit großen Augen zuhörend, einfach wie ein Paradekind, wie Paradekinder nun einmal sind ... Vor ihm oder ihr können die eigenen inneren Kinder jedoch kein Theater spielen. Fehlt das Publikum, dann lohnt keine Show. Dann ist man auf sich verwiesen. Dann ist auf einmal große Tristesse. Dann ist auf einmal die Großartigkeit wie weggeblasen ... das Verliebtsein in die eigene Show, in die eigenen Seifenblasen. Wenn solche Zustände länger dauern, wenn sie ernsthaft wahrgenommen werden, wenn der Erwachsene akzeptiert, dass etwas ganz Entscheidendes nicht stimmt:
Dann kann es sein, dass solche Erwachsenen die Bettdecke nehmen und sie knautschen sie so zusammen, dass sie Gestalt annimmt, und sie weinen in diese Decke. Oder sie nehmen einen Teddy, den sie noch von früher haben, und sie geben ihm mit ihren Tränen die Liebe, die sie nie bekommen haben. Oder sie weinen still vor sich hin ...
Hinter und in all diesen Narzissten steht und findet sich eine große Leere, ein tiefer Schmerz, den ihre Kinder vertuschen sollen ... ... arme Erwachsene ... ... arme Kinder ...
Da hilft nur eines, wenn man Änderung möchte: sich nicht auf der Wasseroberfläche bespiegeln, sondern hinabtauchen in die Wasser der Seele. Gut, wenn man da jemand die Hand geben kann ... ... gut, wenn man sich nicht scheut, Hilfe anzunehmen ... ... gut, wenn die eigenen inneren Kindern aus den Schutthalden hervorkommen und weinen und traurig und schmutzig sein dürfen ... Gut, wenn sie irgendwann gebadet werden ...
Schön, dass man in den Ferien neben all dem Korrigieren ab und an mal in ein Buch gucken kann und in diesen Herbstferien sind es zwei, in die ich morgens nach dem Frühstück eine halbe Stunde bis Stunde reingucke. Eines davon ist White Eagels "Die Göttliche Mutter". Da las ich heute Morgen eine klasse Stelle, die mir bestätigt, dass das Verhältnis der Kinder zu Vater und Mutter, zu Erwachsenen also, dem Verhältnis unseres inneren Kindes zu uns als Erwachsenem entspricht. Im Grunde können wir z.B. die Fehler, die Michael Winterhoff hier anspricht, genau auch auf unser Verhältnis zu unserem inneren Kind umlegen. Es ist falsch, immer als Erwachsener sein Kumpel sein zu wollen oder als Erwachsener sich mit ihm zu identifizieren. Wir würden nicht mehr merken, wenn es uns an der Nase herumführt, wir würden Stimmungen nicht mehr als Stimmungen des inneren Kindes identifizieren können, wir würden unsere Identität als Erwachsener verlieren: Es gibt genug Erwachsene, die fest in der Hand ihres launischen inneren Kindes sind. Oft sind es Menschen, bei denen wir nie wissen, wann sie mal launisch sind und wann nicht, es sind Erwachsene, bei denen man dankbar ist, wenn sie normal sind und nicht launisch. Mit solchen Menschen zusammenleben zu müssen, ist schrecklich, weil man nie weiß, was gerade in ihnen vorgeht und man vollkommen von ihren Launen abhängig ist. Meist sind es Menschen, die mit traumatischen Kindheitserlebnissen nicht klar kommen und fest in deren Hand sind.
White Eagle schreibt: Lasst uns die Liebe analysieren ... wenn wir das können. Wenn man Sentimentalität mit Liebe verwechselt, erschafft man ein Problem, denn Sentimentalität hat ihren Platz, und es ist nicht leicht, sie von Liebe zu trennen. Aber wie es mit allen Tugenden der Fall ist, im Übermaß verliert die Liebe all ihre Kraft. Sie wird zum Hindernis, und es kann geschehen, dass sie den Menschen auf einen falschen Weg lenkt: Er bedeckt seine eigenen Schwächen und Fehler mit dem Mantel der Liebe und für die wirklichen Bedürfnisse seines Bruders oder seiner Schwester - ich ergänze: für die seines inneren Kindes - wird er blind.
Vielleicht ist Folgendes eine der wichtigsten Aussagen, die wir zu machen haben: dass unangebrachte Liebe oder Sentimentalität dich für deinen wirklichen Dienst an deinem Bruder, an deiner Schwester blind machen kann - ich ergänze: für die wirklichen Bedürfnisse des inneren Kindes -. Sie wird bewirken, dass Du nicht weise gibst, dass du nicht nur indirekt dir nachgibst, sondern auch den anderen freien Lauf lässt.
Wir wollen das mit dem Beispiel der hingebungsvollen Mutter verdeutlichen, die dem Kind alles gibt, was es fordert. In dem Glauben, dass dies Liebe ist, gibt die Mutter nicht nur das, wessen das Kind bedarf, sondern sie gibt ihm alles, materiell, mental und spirituell, und macht sich dabei blind für das Bedürfnis des Kindes nach Selbstentfaltung. Was ist die Folge? Statt ihrem Kind Gelegenheit zu geben zu wachsen und glücklich zu sein - ich ergänze in Bezug auf das innere Kind: heil zu werden und glücklich zu sein - beraubt die Mutter es jeder Möglickkeit des Selbstausdruckes und der Entwicklung - ich ergänze in Bezug auf unser inneres Kind: Wir kennen seine Möglichkeiten des Selbstausdruckes und seiner Entwicklungsmöglichkeiten nicht -. Die weise Mutter dagegen enthält sich auf jeder Ebene eines zu üppigen Aufwands.
Bedeutet das, dass die Mutter kalt und gleichgültig werden sollte? Nein. Es bedeutet, dass die Mutter ihr Kind auf solche Art und Weise liebt, dass sie klar sein Bedürfnis nach Erfahrung sieht, dass es lernen muss, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Mutter und der Vater, wenn sie in Verstand und Herz übereinstimmen (und wir hoffen wirklich, dass dies der Fall ist) müssen gemeinsam nicht nur das körperliche Wachstum ihres Kindes, sondern auch das mentale überwachen; sie müssen sorgfältig auf die Spiele achten, die es spielt, auf die Bücher, die das Kind gerne liest und ganz besonders darauf, was das Kind über seine Umgebung denkt. - Anmerkung: Unsere Bücher, unsere Freizeitbeschäftigung, unsere Spiele: klar dürfen sie aus den Wünschen unseres inneren Kindes heraus kommen; aber nicht jedem Spiel, nicht jeder Beschäftigung, die das innere Kind lanciert, müssen wir nachkommen, da ist auch Vorsicht geboten -.
Wir beklagen die Tendenz der Schule, das arme Gehirn solange mit Tatsachenwissen vollzustopfen, bis es voll und verdummt ist. Wir möchten lieber das Kind ermutigen, im Geiste zu wachsen, sich wie eine Blume den geistigen Kräften zu öffnen. Nochmals wiederholen wir: Das Ziel des Lebens ist Wachstum, und im gegenwärtigen Zeitalter ist das Wachstum des Geistes im Kind besonders notwendig.
So weit das Zitat und zum Abschluss der Hinweis, dass wir bald wieder in die Jahreszeit der Ankunft des Göttlichen Kindes eintreten, in der die Energie zur Heilung unseres inneren Kindes besonders hoch ist.
Wenn man die folgenden Sätze liest, kann man davon ausgehen, dass Lakota auch auf innere Schläge verzichteten. Denn: Heute schlagen viele Eltern ihre Kinder nicht mehr physisch, oft aber sind Schläge durch Worte oder durch Blicke genauso schlimm. Und weil Kinder dieses Verhalten oft nicht als Züchtigung einschätzen können, sondern als normal empfinden, haben sie kein Bewusstsein davon, dass sie in ihrer Kindheit vielfach geschlagen worden sind. So makaber es ist: Da können physische Schläge für die Entwicklung eines Menschen weniger schlimm sein; denn ein solches Kind weiß, dass es geschlagen worden ist und kann das Geschehen als Erwachsener aufarbeiten. Klar, dass Schläge, ob innere oder äußere, in jedem Fall eine Kinderseele grausam quälen. Wie viele Menschen aber gibt es, die von ihrer glücklichen Kindheit erzählen und dass sie nie geschlagen worden seien, dabei weist der Rücken ihrer Seele viele blaue Flecken auf, Flecken, die sich oft als dunkle Seiten unseres inneren Kindes nieder"schlagen". Hier nun dieser wundervolle, friedvolle Text:
Im Stamm der Lakota war jeder gern bereit, Kinder zu betreuen. Ein Kind gehörte nicht nur einer bestimmten Familie an, sondern der großen Gemeinschaft der Sippe; sobald es gehen konnte, war es im ganzen Lager daheim, denn jeder fühlte sich als sein Verwandter. Meine Mutter erzählte mir, dass ich als Kind oft von Zelt zu Zelt getragen wurde und sie mich an manchen Tagen nur hie und da zu Gesicht bekam. Niemals sprachen meine Eltern und Verwandten ein unfreundliches Wort zu mir, und niemals schalten sie mich, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Ein Kind zu schlagen, war für einen Lakota eine unvorstellbare Grausamkeit. aus Weißt Du, daß die Bäume reden. Herder-Verlag
Als ich heute diese Sätze von Luther Standing Bear, der in seinen Schriften die Freundlichkeit seines Volkes Kindern gegenüber betont, in einer 6. Klasse als Einstimmen auf den Unterricht vorlas, meldeten sich viele zu Wort, und es gab auch die Meinung, dass man doch ein Kind auch schimpfen müsse, wenn es etwas ausgefressen habe. Schwierig für manche Kinder zu verstehen, dass es eine Klarheit in Liebe gibt, die mindestens genauso wirkungsvoll Maßstäbe setzen kann. Wir reden zwar gern von der Liebe, aber wir glauben nicht an die Macht der Liebe und ihre erzieherische Kraft. Selten haben wir das in unserer Kindheit selbst erlebt. Für meine Kindheit jedenfalls gilt dieses "selten". Entweder ich sah etwas freiwillig ein oder mir wurde es eingesehen. Manchmal, ja des Öfteren auch mit Schlägen. Astrid Lindgren hat in ihrer bemerkenswerten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandles herrlich aufzeigen können, wie Gewalt durch Erkenntnis, Verständnis und Liebe entmachtet werden kann. Die Sätze Luther Standing Bears erinnern mich auch an die Kahlil Gibrans zu den Kindern. Wie schön, wenn für Kinder sich ihre Welt so vertrauensvoll öffnet. Wie sagt man in Afrika dem Sinn nach: Es bedarf eines ganzen Dorfes, um ein Kind zu erziehen. Es gibt Gegenbeispiele, in denen Kindern dieser vertrauensvolle Zugang zum Leben fehlt - mit entsprechenden Folgen womöglich für ein ganzes Leben. Gerade deshalb sind wir gehalten, an einer Welt des Vertrauens und der Liebe mitzuarbeiten und gerade auch uns selbst Fehler und Rückschläge zu verzeihen, um der Strenge ihre Macht und Verfügungsgewalt über uns zu nehmen; nur dann können wir uns auf neue Weise verhalten.
Im Rahmen eines bereits vorliegenden Post zur Unendlichen Geschichte bin ich auf deren Inhalt schon etwas eingegangen - wer sich vorab zunächst ein wenig informieren möchte ...
Dass Bastian, neben Atréju der Hauptakteur der Unendlichen Geschichte, diese, die er als Buch aus einem Buchladen entwendet hat, auf dem Dachspeicher seiner Schule liest, ganz allein mit sich, dem Buch und seiner Fantasie, ist kein Zufall. Er sitzt da, wo nur wenige hinkommen, wo man doch gemeinhin gar nichts lernen kann. Aber ganz sicher ist es so, dass er dahin musste, um die Zeit und Ruhe zu finden, zum Retter und Helden zu werden ...
Dass er da ist, wo er scheinbar nichts lernen kann, ist Bastian ganz und gar egal, denn er ist ganz gebannt von dem Inhalt des entwendeten Buches, wobei er schon etwas friert, sich alte Militärdecken umlegen muss und froh ist, ein wenig Kerzenschein zu haben. Gerade muss er zudem lesen, dass Atréju in einen gewaltigen Sturm gekommen ist, den die vier Windriesen verursacht haben. Mutig, wie er ist, richtet er sich mit Mühe auf dem Glücksdrachen, der ihn zu den Grenzen Phantásiens fliegen soll, auf, um die vier, indem er ihnen AURYN zeigt, zu fragen, wo die Grenzen seien, im Norden, im Süden, im Westen oder Osten. Doch er erhält zur Antwort:
"Wer bist Du denn, der das Zeichen der kindlichen Kaiserin trägt und nicht weißt, dass Phantasien grenzenlos ist?"
Atréju ist wie vor den Kopf geschlagen, muss er doch über Phantásien hinaus um zu jenem Menschenkind zu kommen, von dem er hofft, dass es der kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gebe; nur so, das weiß er, ist Rettung vor dem NICHTS, das sich in Phantásien immer mehr ausbreitet, möglich. Wie aber soll er über Phantásien hinaus kommen, wenn es grenzenlos ist?
Kein Wunder passt er einen Moment nicht auf und schon ist es geschehen. Er stürzt in die Tiefe - und was das Schlimmste ist, er verliert dabei AURYN, den GLANZ, das Amulett der kindlichen Kaiserin, das ihn auf seiner Reise begleitet und ihm schon so wertvolle Dienste geleistet hatte.
Als er wieder aufwacht, liegt er auf Sand an einem Strand und hört Meeresrauschen. Nun ist er kein Bote seiner Kaiserin mehr, ohne AURYN. Was bleibt ihm, als landeinwärts zu laufen.
Da nun begegnet ihm, was mich so sehr an unsere traumatisierten Kinder erinnert, denn - erinnern wir uns: Phantásien ist überall, also auch bei und in den Kindern, auch wir waren dort in unserer Kindheit und es soll Erwachsene geben, die noch heute immer wieder dort einkehren ... einer z.B. hieß Michael Ende ... heute ist er in seinem Phantásien, denn er lebt bekanntlich nicht mehr ... er lebt nun dort ...
... allerdings nicht da, wo wir Atréju nun finden, dem etwas Unheimliches begegnet:
Atréju war noch nicht sehr lange so dahingewandert, als er aus der Ferne ein seltsames, stampfendes Geräusch vernahm, das näher kam. Es war wie das dumpfe Dröhnen einer großen Trommel, dazwischen hörte er schrilles Pfeifen wie von kleinen Flöten und Schellengeklingel. Er versteckte sich hinter einem Busch am Straßenrand und wartete ab.
Die eigenartige Musik kam langsam näher und schließlich tauchten aus dem Nebel die ersten Gestalten auf. Offenbar tanzten sie, aber es war kein fröhlicher oder anmutiger Tanz, vielmehr sprangen sie mit höchst absonderlichen Bewegungen herum, wälzten sich auf dem Boden, krochen auf allen vieren, bäumten sich hoch und benahmen sich wie verrückt. Aber das Einzige, was man dabei hörte, war der dumpfe, langsame Trommelschlag, die schrillen Pfeifchen und ein Winseln und Keuchen aus vielen Kehlen.
Es wurden mehr und immer mehr, es war ein Zug, der kein Ende zu nehmen schien. Atréju erblickte die Gesichter der Tänzer, sie waren grau wie Asche und schweißüberströmt, aber ihrer aller Augen glühten in einem wilden, fieberhaften Glanz. Manche peitschten sich selbst mit Geißeln.
Sie sind wahnsinnig, dachte Atréju und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken.
Übrigens konnte er feststellen, dass der größte Teil dieser Prozession aus Nachtalben, Kobolden und Gespenstern bestand. Auch Vampire und eine Menge Hexen waren darunter, alte mit großen Buckeln und Ziegenbärten am Kinn, aber auch junge, die schön und böse aussahen. Offensichtlich war Atréju hier in eines der Länder Phantásiens geraten, das von Geschöpfen der Finsternis bevölkert war. Hätte er AURYN noch gehabt, so wäre er ihnen ohne Zögern entgegengetreten, um sie zu fragen, was hier vorging. So aber zog er es vor, in seinem Versteck abzuwarten, bis die tolle Prozession vorübergezogen war und der letzte Nachzügler hinkend und hopsend im Nebel verschwand.
Erst dann wagte er sich wieder auf die Straße hinaus und blickte dem geisterhaften Zug nach. Sollte er ihm folgen oder nicht? Er konnte sich nicht entschließen. Eigentlich wusste er überhaupt nicht mehr, ob er jetzt noch irgendetwas tun sollte oder konnte.
Zum ersten Mal fühlte er deutlich, wie sehr ihm das Amulett der Kindlichen Kaiserin fehlte und wie hilflos er ohne es war. Nicht der Schutz, den es ihm gewährt hatte, war das Eigentliche - alle Mühen und Entbehrungen, alle Ängste und Einsamkeiten hatte er ja dennoch aus eigenen Kräften bestehen müssen - aber solange er das Zeichen getragen hatte, war er sich nie unsicher gewesen, was er tun musste. Wie ein geheimnisvoller Kompass hatte es seinen Willen, seine Entschlüsse in die rechte Richtung gelenkt. Aber jetzt war das anders, jetzt war keine geheime Kraft mehr da, die ihn führte.
Nur um nicht wie gelähmt stehen zu bleiben, befahl er sich selbst dem Gespensterzug zu folgen, dessen dumpfer Trommelrhythmus noch immer aus der Ferne zu hören war.
Während er durch den Nebel huschte, immer darauf bedacht, gebührenden Abstand von den letzten Nachzüglern zu halten, versuchte er sich über seine Lage klar zu werden.
Warum nur, ach, warum hatte er nicht auf Fuchur gehört, als der ihm geraten hatte, sofort zur Kindlichen Kaiserin zurückzufliegen? Er hätte ihr die Botschaft der Uyulála überbracht und das Amulett zurückgegeben. Ohne AURYN, den Glanz, und ohne Fuchur konnte er nicht mehr zur Kindlichen Kaiserin gelangen. Sie würde bis zum letzten Augenblick ihres Lebens auf ihn warten, hoffen, dass er käme, glauben, dass er ihr und Phantasien die Rettung brächte - aber vergebens!
Das war schon schlimm genug, schlimmer aber war, was er durch die Windriesen erfahren hatte: dass es keine Grenzen gab. Wenn es unmöglich war, aus Phantasien herauszukommen, dann war es auch unmöglich, ein Menschenkind von jenseits der Grenzen zu Hilfe zu rufen. Gerade weil Phantasien unendlich war, war sein Ende unabwendbar!
Während er weiter über das unebene Pflaster durch die Nebelschwaden stolperte, hörte er in seiner Erinnerung noch einmal die sanfte Stimme der Uyulála. Ein winziges Hoffnungsfünkchen glomm in seinem Herzen auf.
Früher waren oft Menschen nach Phantasien gekommen, um der Kindlichen Kaiserin immer neue, herrliche Namen zu geben - so hatte sie doch gesungen. Also gab es doch einen Weg von der einen Welt in die andere!
»Für sie ist es nah, doch für uns ist es weit, zu weit, um zu ihnen zu kommen.«
Ja, so hatten Uyulálas Worte gelautet. Nur, dass die Menschenkinder diesen Weg vergessen hatten. Aber konnte es nicht sein, dass eines, ein einziges sich wieder daran erinnerte?
Dass es für ihn selbst keine Hoffnung mehr gab, kümmerte Atreju wenig. Wichtig war allein, dass ein Menschenkind den Ruf Phantásiens hörte und kam - so wie es zu allen Zeiten geschehen war. Und vielleicht, vielleicht hatte sich schon eines aufgemacht und war unterwegs!
»Ja! ja!«, rief Bastian. Er erschrak vor seiner eigenen Stimme und fügte leiser hinzu:
»Ich würde euch ja zu Hilfe kommen, wenn ich nur wüsste wie! Ich weiß den Weg nicht, Atreju. Ich weiß ihn wirklich nicht.«
Der dumpfe Trommelklang und die schrillen Pfeifchen waren verstummt, und ohne es zu merken, war Atréju der Prozession so nahe gekommen, dass er fast auf die letzten Gestalten auflief. Da er barfuß war, machten seine Schritte kein Geräusch - aber nicht das war es, was diese Leute dazu brachte, ihn überhaupt nicht zu beachten. Er hätte auch mit eisenbeschlagenen Stiefeln dahertrampeln und laut schreien können, niemand hätte sich darum gekümmert.
Sie standen nun nicht mehr in einem Zug, sondern weit verteilt auf einem Feld aus grauem Gras und Schlamm. Manche schwankten leicht hin und her, andere standen oder hockten reglos herum, aber ihrer aller Augen, in denen ein blinder fiebriger Glanz lag, blickten in dieselbe Richtung.
Und nun sah auch Atréju, worauf sie hinstarrten wie in einer grausigen Verzückung: Auf der anderen Seite des Feldes lag das Nichts.
Wer diesen Auszug aus der Unendlichen Geschichte gelesen hat, ohne den ganzen Roman zu kennen, mag schon beeindruckt sein, allein von der Tatsache, dass dieses Phantásien keine Grenzen kennt - das wissen wir doch alle, wenn in uns Phantásien lebt ... und in wem es nicht lebt, der liest diesen Roman ohnehin nicht.
Vielleicht sind wir eines dieser Menschenkinder, das vermöchte, der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben, dafür zu sorgen, dass sie wieder gesund wird, ja, dass das Nichts sich nicht weiter ausbreitet.
Zurück zur Geschichte:Was Atreju sehen muss, erschüttert ihn zutiefst, denn er
sah, dass die Spukgestalten auf dem Feld vor ihm zu zucken begannen, dass ihre Glieder sich wie in Krämpfen verdrehten und ihre Münder aufgerissen waren, als wollten sie schreien oder lachen, doch es herrschte Totenstille. Und dann - als seien sie welke Laubblätter, die ein Windstoß erfasst - rasten sie alle gleichzeitig auf das Nichts zu und stürzten, rollten und sprangen hinein.
Das aber ist noch nicht das Schlimmste, was Atréju erfährt. Von dem Werwolf Gmork erfährt er, was mit diesen Gestalten geschieht:
Hast du das Nichts gesehen, Söhnchen?« »Ja, viele Male.« »Wie sieht es aus?« »Als ob man blind ist.«
»Nun gut -, und wenn ihr da hineingeraten seid, dann haftet es euch an, das Nichts. Ihr seid wie eine ansteckende Krankheit, durch die die Menschen blind werden, sodass sie Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. Weißt du, wie man euch dort nennt?« »Nein«, flüsterte Atreju.
»Lügen!«, bellte Gmork.
Dies ist für mich der Bezug, der sich zu inneren Kindern herstellt.
Als Kinder sind wir im Reich Phantásiens zu Hause. Und erinnern wir uns, wie es war: Es gab nicht diesen Unterschied, den Erwachsene kennen, die Welt der Kindlichen Kaiserin und die Realität waren für uns im Grunde eins. Deshalb gibt es auch in Märchen wie selbstverständlich Wunder und Wunderbares. Tiere können sprechen, Bäume neigen sich den Menschen zu, Felsen öffnen sich und Wasser weiß zu reden.
Wenn nun innere Kinder verletzt werden, dann spalten sie sich ab. Es sind die Traumen, die wir als Kinder erfahren. Diese verletzten Teile kauern sich auf den Grund unserer Seele und wenn sie sich in unserem Erwachsenenleben aktualisieren, dann stürzen sie sich in die Welt der Erwachsenen, in unsere erwachsene Welt. Dort aber sind sie uns in keiner Weise hilfreich. Was sie machen: Sie belügen uns, sie sind Lügen, sie täuschen uns über die wahre Welt hinweg.
Gmork sagt:
»Sie werden zu Wahnideen in den Köpfen der Menschen, zu Vorstellungen der Angst, wo es in Wahrheit nichts zu fürchten gibt, zu Begierden nach Dingen, die sie krank machen, zu Vorstellungen der Verzweiflung, wo kein Grund zum Verzweifeln da ist.«
Unsere verletzten inneren Kinder sind diese Wahnideen, die uns suggerieren, es sei richtig, was wir tun, wenn wir lieblos sind, wenn wir ein Kind schimpfen, das tut, was wir nicht durften. Wir verletzen es, damit es auch zu einer Lüge wird. Deshalb verschwindet Phantásien immer mehr. Und es ist das Ziel der Erwachsenen, die aus diesen Lügen heraus leben, anderen weiszumachen, dass es Phantasien nicht mehr gibt.
Deshalb gibt es so viele Erwachsene, die Kinder in Wahrheit nicht verstehen.
Und leider ist es auch so: Wenn Menschen lügen, schädigen sie auch gleichzeitig die Wesen Phantásiens, so dass sie zu dem Gelichter werden, dass Atréju begegnete.
Von daher kann es nur ein Ziel für uns geben: So viel wie möglich, unsere verletzten inneren Kinder zu heilen, unsere Lügen zu enttarnen.
Und immer wenn wir die Lügen von Erwachsenen enttarnen, sei es im privaten Bereich oder in der Politik helfen wir der Kindlichen Kaiserin, die in Wahrheit in jedem Menschen ist.
So lässt sich Phantasien, so lässt sich die kindliche Kaiserin in uns retten.
So werden die inneren Kinder in uns Helfer, liebevolle Erwachsene zu sein.
Solche Erwachsenen verstehen Kinder. Sie können Kinder wirklich durch ihre Kindheit begleiten. Sie können ihnen den Glauben an ihre Kindliche Kaiserin lassen. Sie sind ein Wall gegen das Nichts, das unsere Welt immer mehr durchzieht.
Das Wiedergewinnen der kindlichen Seele ist meines Erachtens ein langer Prozess, eine Entwicklung in vielen Schritten auf sich selbst, auf sein wahres Selbst, den Christus in uns zu; es beinhaltet das Heilen vieler Verletzungen und ein stufenweises, erkennendes Erfahren dieses göttlichen Kindes in uns. Und dennoch kann dieser Prozess in einem entscheidenden Erlebnis oder Augenblick transparent werden, kulminieren.
Julien Green schreibt davon in seinem Buch "Bruder Franz", der Krönung seines Lebenswerkes, seinem letzten Werk. Dort heißt es über Franz von Assisi und den entscheidenden Moment:
Das Gemurmel der lateinischen Worte unterbricht kaum die Stille der kleinen romanischen Kirche, die verloren mitten im Eichwald steht. Beim Schimmer zweier Kerzen liest der Priester - es ist ein Benediktinermönch - das Evangelium. Franziskus entdeckt während der Lesung die geheimnisvollen Verse. Gleich wird der Mönch ihm ihren Sinn erklären. Der entscheidende Augenblick ist gekommen. Die Messe ist aus, die Kerzen erlöschen, die Tür steht offen, Franziskus macht sich auf den Weg. (...) Von diesem Augenblick an war Franziskus ein anderer Mensch. Alle Theologen der Welt wären außerstande, diese innere Wandlung zu beschreiben, die sich unserer klassischen Psychologie entziehen. Franziskus machte in sich Platz für Christus.
Im Folgenden zitiere ich eine Passage aus Julien Greens Buch über den Heiligen von Assisi, die - bitte nicht vorweg spickeln - mit einem Satz endet, der so bedeutend ist, dass er zum zentralen Satz, zum Dreh- und Angelpunkt jeder Lebensgeschichte werden kann.
Hier nun der Ausschnitt:
Nach dem allerersten Jünger, der unbekannt blieb, fast wie wenn in dessen erloschenem Bild sich alle, die Franziskus einmal lieben werden, wiederer kennen sollten, war der erste Jünger, der uns bekannt ist, ein reicher Bürger Assisis, Bernardo di Quintavalle. Dieser Mann war Doktor beider Rechte an der Universität Bologna, stammte aus niederem, aber sehr angesehenem Adel, bewohnte ein stattliches Herrenhaus, ein Mann von so vielen Qualitäten, dass sie kaum zu ertragen sind. Seine Bekehrung erfolgte keineswegs plötzlich und wird dadurch interessant. Die Erleuchtung kam, wenn man so sagen kann, mit Zeitzündung.
Franziskus und seine Bekehrung waren Stadtgespräch gewesen und hatten auch Bernardos Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der neue Arme hatte die Schmähreden der Spötter und Zyniker ertragen, keine Beleidigung war ihm erspart geblieben, er war mit Dreck und Steinen beworfen worden und hatte das alles mit unbegreiflicher Demut auf sich genommen, für die jedermann nur Entrüstung oder Verachtung zeigte. Bernardo verfolgte alle diese Dinge mit großer Aufmerksamkeit und stellte sich Fragen. Wenn es sich um einen Heuchler handelte, woher nahm er dann die Kraft, das auszuhalten? Zweifel nistete sich bei ihm ein, und eines Tages bot er aus Mitleid dem armen „Pazzo" ein Obdach in seinem Hause an und bat ihn, mit ihm zu Abend zu essen.
Franziskus nahm die höflich ausgesprochene Einladung an. Es blieb sicher nicht bei dieser einen, und so entwickelte sich nach und nach eine Freundschaft, die sich später, als Franziskus zu predigen begann, großartig entfalten sollte. Aber wie vorsichtig war Bernardo di Quintavalle damals noch. Er war kein Mann, der sich leicht auf etwas einlässt. Die Stimmung im Volke schlug wie so häufig um, und aus der feindseligen Haltung gegen Franziskus wurde Respekt, schließlich Schwärmerei und fast so etwas wie Liebe.
Wie sollte man da noch klar sehen? Bernardo hatte ohne Zweifel lange Gespräche mit „seinem" Armen geführt, und dieser redete aus tiefstem Herzensgrund und mit einer umwerfenden Aufrichtigkeit, aber dennoch . . . Nichts leichter, als ins Schwärmen zu geraten und wortreich und ohne böse Absicht von sich selber ein schmeichelhaftes und sogar erbauliches Bild darzubieten . . .
Bernardo di Quintavalle, ein ernster Mann, älter als Franziskus, wollte sich ein eigenes und mit dem Verstand gewonnenes Urteil über seinen Gast bilden und nahm kurz nach der ersten Predigt von Franziskus in San Giorgio Zuflucht zu einer frommen List, die auf den ersten Blick befremdet, durch das Endergebnis aber gerechtfertigt wird. Wenn Franziskus bei ihm schlief, ließ er ihm gewöhnlich ein Bett in seinem eigenen Zimmer herrichten, wo stets ein Nachtlicht brannte.
Von Natur aus neugierig, misstrauisch und ein auf merksamer Beobachter, hielt er sich für besonders geeignet, endlich die ganze Wahrheit über Franziskus zu erfahren. Er wartete erst eine Zeitlang, und dann stellte er sich schlafend. Manche Leute horchen an der Tür oder schauen durchs Schlüsselloch. Das ist eine unerschöpfliche Informationsquelle, die beste, wie ein englischer Romanschriftsteller sagte. Bernardo dagegen fand ein anderes Mittel, er fing an zu schnarchen und sah dann, wie Franziskus aus dem Bett schlüpfte und niederkniete, die Augen zum Himmel richtete, die Hände emporhob und zu flüstern begann: „Gott! Mein Gott!" Beim milden Schein der kleinen Lampe betrachtete Bernardo den durch Kasteiungen schon gezeichneten Körper des Mannes. Unter dem groben Gewand, das er nie ablegte, war nicht mehr viel vom ehemaligen „König der Jugend" zu entdecken. Jetzt hörte er wieder diese erstickten Rufe, die nur an Gott gerichtet und für keine anderen Ohren bestimmt waren. Wie Hammerschläge trafen sie die Brust des indiskreten Zeugen. Was er hörte, war ein Zwiegespräch der Liebe, wobei die Antwort im Anruf selber lag. Der Ruf der Liebe des Menschen zu Gott vereinigte sich mit dem Ruf der Liebe Gottes zum Menschen. Die Welt versank, und über diesem Einswerden lag der Schauder eines Mysteriums. „Ich liebe dich" sprachen gemeinsam das Geschöpf und sein Schöpfer, eins geworden und miteinander verschmolzen. Es war zum Fürchten. „Gott!" wiederholte Franziskus immer wieder wie in einem Rausch.
Das dauerte bis Tagesanbruch. Weder Franziskus noch sein Gastgeber hatten ein Auge zugetan, aber Bernardo spürte, wie sich in seinem Innern eine Wandlung vollzog. Am Morgen machte er mit Worten, die uns überliefert sind, Franziskus folgende Erklärung: „Ich habe in meinem Herzen den festen Entschluss gefasst, der Welt zu entsagen und dir in allem zu folgen, was auch immer du befehlen wirst."
Eine erstaunliche Bekehrung, noch erstaunlicher als die des Franziskus, die langwierig und mühsam gewesen war, Zweifeln und Schwankungen unterworfen. Er war vor dieser Liebe geflohen, war hingerissen zu ihr zurückgekehrt und hatte sich von neuem von ihr abgewandt und endlich nach ehrlichem Ringen die Waffen gestreckt. Bernardo ergab sich wie ein Kind beim ersten Schlag. Dieser reiche Mann von Stand warf alles weg und legte seinen Willen in die Hände eines armen Unwissenden, der nichts anderes kannte als Gott allein.
Und plötzlich war nicht mehr er, sondern war Franziskus vorsichtig; denn der vertrat die Ansicht, dass man über eine so ernste und schwierige Entscheidung nachdenken müsse. Das Beste würde sein, Rat einzuholen. Aber bei wem? Nur beim Herrn selber, der ihm im Evangelium seinen Willen kundtun würde. Und wie sollte das geschehen? Man würde das Evangelienbuch dreimal an irgendeiner Stelle auf schlagen, wie es der Zufall wollte. Ein solches Buchorakel war im Mittelalter gang und gäbe, und es ist auch heute nicht außer Gebrauch.
Ein Freund von Bernardo di Quintavalle, Jurist wie er, aber weniger vermögend, Pietro di Cattaneo, Domherr an der Kathedrale, wie einige Texte sagen - aber höchstens ehrenhalber, - denn man findet im Kirchenbuch der Kathedrale seinen Namen nicht unter den Kanonikern dieser Jahre -, Pietro di Cattaneo also äußerte den Wunsch, sich ihnen anschließen zu dürfen, als sie nach San Nicolò, der nächstgelegenen Kirche, gehen wollten. Dort hörten sie die Messe, und als die Kirche leer war, baten sie den Priester um Erlaubnis, in dem auf dem Pult verbliebenen Evangelium nachschlagen zu dürfen.
Beim ersten Aufschlagen des Buches stießen sie auf den Vers des heiligen Matthäus: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben" (Mt 19, 21). Eine wesentliche und klare Aussage, die keinen Vorbehalt zuließ. Beim zweiten Mal gab das Buch die notwendigen Erklärungen dazu: „Nehmt nichts mit auf den Weg, weder einen Stab noch eine Tasche, weder Schuhe noch Geld..." Es war der nämliche Vers des heiligen Lukas (Lk 9, 3), den der Benediktiner damals in der Portiunkula Franziskus erklärt hatte; diese Wiederholung dürfte eine ungeheure Wirkung auf ihn gehabt haben. Das betraf die praktische Ausführung. Schließlich, beim dritten Mal, erfolgte der schwierigste, um nicht zu sagen unmöglichste Rat: „Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Lk 9, 23). Hier verlassen wir den irdischen Bereich und berühren den des Absoluten. Selbstverleugnung als höchster Reichtum, eine Forderung von tyrannischer Härte.
Mit einer Begeisterung sondergleichen verkündete Franziskus nun sein Ideal: „Das ist unser Leben, das ist der Rat, den Christus uns gibt, das ist unsere und die Regel aller, die mit uns kommen wollen."
Wenn wir Franziskus' Begeisterung bewundern, wie er im Evangelium etwas entdeckt, was er zweifellos schon hundertmal, aber nur mit halbem Ohr gehört hatte, so sind wir nicht weniger betroffen von der Bescheidenheit und Demut des Messire Bernardo und des Pietro di Cattaneo, die wie brave Schüler dem einfachen Priester zuhören, wie er ihnen die Verse erklärt, die sie auswendig kennen. Aber mit Franziskus haben sie ihre kindliche Seele wiedergefunden, die ihnen in ihrem weltlichen Leben längst abhanden gekommen war.
* Um nichts anderes geht es als um das Finden unserer kindlichen Seele *
In Baden Württemberg naht die Zeugnisausgabe, in anderen Bundesländern sind Familien schon friedlich vereint in den Ferien. Mit den Zeugnissen verbinde ich so manche erschütternde Szene. Ich erinnere mich, dass ich als junger Lehrer - die Klasse hatte den Raum schon verlassen - das Zimmer abschließen wollte. Wenn da nicht noch die 11-jährige Anne an ihrem Ranzen herumgenestelt hätte.
Anne, Jan, Klara, Bettina, Tobias und wie sie alle heißen ...
„Ist was mit Dir, Anne?“ - „Nein!“ - „Irgendwas ist doch ...“ - „Nein, es ist nichts.“ - „Anne, Du musst mir nichts ...“ - „Auf einmal flossen die Tränen in Sturzbächen und das Kind weinte haltlos ... mit ihrem Schluchzen kam ihr ganzes Elend aus ihr heraus:“Meine Eltern wollen sich trennen!“ - Die Eltern hatten ein großes Geschäft in der Innenstadt ... Für Anne würden die Ferien schrecklich sein; kein Halt, keine Ablenkung mehr in der Schule, kein Zusammensein mehr mit Freunden; nur noch Unglück zu Hause ... zu viel für diese kindliche Seele ...
Ich glaube, dass ein Grund, warum viele sich selbst nicht begegnen, ist, dass sie sich auf der Ebene des Erwachsenen suchen; aber mehr Menschen, als man glaubt, sind in Wirklichkeit keine Erwachsenen, weil sie nie wirklich Verantwortung für sich übernommen haben. Man erkennt sie auch daran, dass sie viel "Schuld" auf die Politiker schieben, den Chef, auf das Wetter, den lieben Gott; doch dieser Gott sind in Wirklichkeit oft sie selbst, weil er nicht mehr ist als ihr eigenes begrenztes Bewusstsein.
Wie will sich jemand auf einer Ebene finden, auf der er gar nicht vorhanden ist? Höchstens eben in seiner Einbildung ...
Es ist zugleich wichtig, sich auf die Ebene der Kinder in uns und um uns zu begeben, denn nur, wer ihnen begegnet, kann auch dem göttlichen Kind in uns begegnen, dem Christusgeist, Atman oder wie man es immer nennt.
Der Erwachsene kann nur reifen, wenn die Kinder heilen.
Wahre Religiosität ist eine Gemeinschaft von Kindern, die in Gott wachsen wollen; in diesem Sinne werden sie wahrhaft er-wachsen.
Im Zusammenhang mit meinem letzten Post über die Beziehung von Vätern zu ihren Töchtern habe ich dieses Thema auch in meiner Ethik-Postaufgegriffen, wie auch bereits früherin diesem Blog.
Das Vaterthema spiegelt sich auch in der Literatur; auf erschütternde Weise bei Franz Kafka: hier.
Ich habe an anderer Stelle über die Beziehung von Söhnen zu ihren Müttern geschrieben.
Heute geht es um die von Vätern zu ihren Töchtern.
Vielleicht kann man sie grob in zwei Kategorien unterteilen:
zum einen in jene, wie sie unter anderem Gisela Onken in Vatermänner verarbeitet und darüber schreibt, warum viele Frauen im Umgang mit Männern ihr Selbstvertrauen verlieren und warum ihnen das womöglich gar nicht bewusst ist. Als sich Gisela Onken der Beziehung zu ihrem Vater bewusst wird, wird ihr klar, wie sehr sie als kleines Mädchen immer darum kämpfte, die Liebe ihres Vaters zu erringen ... ein Kampf, den viele Frauen auf dem Hintergrund einer vergleichbaren Vater-Tochter-Beziehung ein Leben lang in Bezug auf ihren Mann führen - oft unbewusst --- immer ist es der Vater, den sie suchen ... den sie nie gefunden haben ..
Diese Beziehung mag oft voller Leid sein, denn sie kann von wahnsinnigen Verlustängsten geprägt sein, zumindest aber von einer ganz und gar assymetrischen Beziehung, ungesund für Leib und Seele ...
Aber es gibt noch eine ganz andere Art von Beziehungen, wie sie Väter mit ihren Töchtern führen, und dazu hören Sie bitte das Lied, das der 50-jährige Udo Jürgens für seine damals 17-jährige Tochter verfasste. – Was ich im Folgenden geschrieben habe, möchte ich beibehalten, auch wenn mir der 80-jährige Udo Jürgens mittlerweile fast ein wenig ans Herz gewachsen ist; ich habe einfach auch vor seinem Lebenswerk sehr großen Respekt. Ich finde, er ist authentischer und natürlicher als früher geworden. Früher war er mir nicht sonderlich sympathisch, zu gockelhaft benahm er sich manchmal, zu gespreizt, auch stimmlich. Wie gesagt, heute empfinde ich ihn anders. Natürlich hängt das mit dem Alter zusammen, dennoch ist seine Entwicklung zu mehr Authentizität und Natürlichkeit nicht selbstverständlich; vieles, was er sagt, wirkt wesentlich gereifter. Ich möchte dennoch, was ich geschrieben habe, stehen lassen. Für die damalige Zeit stimmt es aus meiner Sicht nach wie vor. Ich habe damals über Vater und Tochter geschrieben: Wie alt beide sind, als sie es hier singen, weiß ich nicht. Das ist auch nicht wichtig, wichtiger ist: Schauen Sie auf die Augen der beiden ... auf die Körperhaltung, die Bewegungen der Körper ... ein Liebespaar?
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich eine Information weitergeben, die ich Wikipedia entnehme:
6 Jahre nach dieser Aufnahme - Udo Jürgens ist mittlerweile 56 Jahre alt - heiratet der geniale Musiker und Chansonier, der wohl mittlerweile um die 1000 Lieder geschrieben hat - und nicht wenige gingen musikalisch um die Welt - eine 16-Jährige.
Umgangssprachlich pflegt man zu sagen: Es könnte seine Tochter sein.
Der Clou ist:
Sie ist es auch. Wer mit 56 eine 16-Jährige heiratet, heiratet keine reife Frau, er heiratet keine Frau, die sich mit ihm auch auseinandersetzen kann, die ihn wirklich auch seelisch bereichert und er sie;
nein, er heiratet eine Tochter, er weicht gleichwertigen Frauen aus.
Das heißt:
In Wirklichkeit ist dieser Bereich in ihm nicht erwachsen.
Bis er die junge Frau hat, die er mit 50 oder 60 noch ins Bett ziehen möchte, gibt er den jugendlichen Liebhaber ... genauer gesagt: den ewigen Bub.
Wenn er die 16-Jährige dann hat, sicher hat - der jugendliche Liebhaber ist auf Dauer auch zu anstrengend - mutiert er im Rahmen der Ehe bzw. Beziehung für seine Frau zum Vater.
Bis er wegen der nächsten interessanten Tochter wieder auf Touren kommt ...
Homo Faber lässt grüßen.
Von daher ist für mich auch obige Frage beantwortet. Der Eindruck, der sich aus dem Video ergibt, ist angesichts der folgenden Ehe von Udo Jürgens mit der 16-Jährigen kein Zufall.
Video und Ehe sind zwei Seiten einer Medaille.
Ein Vater wahrt als Erwachsener seiner Tochter gegenüber eine bestimmte Distanz; er ist nicht der familiäre Platzhirsch - und hätte es auch nie sein sollen -, der durch sein Blöken (bzw. Singen) Konkurrenten vertreibt.
Diese Distanz ist hier spürbar nicht gewahrt.
Auch von Seiten der Tochter nicht. Aber sie ist nicht frei.
Der Text des Liedes ist in gewisser Weise kindisch, unreif, bestenfalls ein frommer Wunsch, allerdings in einem Sinn, in dem ich niemand wünsche, fromm zu sein ... es ist eine Frömmelei.
Liebe ohne Leiden gibt es nicht, und man kann sie ernsthaft auch niemand wünschen, denn es wäre eine, die stagniert.
Ein Vater weiß, dass seine Tochter leiden wird, in der Liebe; er kann nur wünschen ihr ein wenig mitgegeben zu haben, mit Leid umgehen zu können.
Ich mag einige Lieder von Udo Jürgens und dem Menschen Udo Jürgens wünsche ich alles Gute. Da er sich so in die Öffentlichkeit stellt, erlaube ich mir auch, meine Sicht auf diese Seite seines Wesens darzustellen.
Für mich hat auch dieser Fernseh-Auftritt etwas Prostitutives.
Es scheint eine glückliche Vater-Tochter-Beziehung, die da über die Mattscheibe flimmert. Ob aber die Tochter nicht ständig ihre Beziehungspartner - zumindest unbewusst - mit ihrem Vater vergleicht, und ob sie sich, weil die gleichaltrigen Männer ja eh alle kindisch sind, nicht schließlich doch einen viel älteren Mann anlacht ...
Ich wünsche sehr, dass Väter zunehmend weniger dem Glück ihrer Töchter im Wege stehen!